Ein Ende und ein Anfang
Chrissie
22. November. Wir sind aufgeregt! Bereits um 04:30 Uhr sind wir auf den Beinen. Zwei Stunden später sitzen wir Zug unterwegs zum Düsseldorfer Flughafen.
Es ist der Beginn einer Reise. Es ist der Anfang von etwas Gewaltigem und unfasslich Schönem. Als wir 2019 diesen irren Trip mit „Rucksack und Rentner“ starteten, hatten wir viele Träume und Vorstellungen. Doch nie hätten wir ahnen können, wie diese Reise unser Leben verändern würde.
Noch vor drei Wochen wussten wir nicht, dass dieser Novembertag etwas Besonderes sein würde. Und hätte ich es gewusst, so wäre sämtliche Vorfreude erstickt unter dem dicken schwarzen Mantel der Trauer. Am 01.11. ist mein Vater, Helmut Bogenstahl, gestorben. Seine Liebe, seine Geduld und Nachsicht mit anderen Menschen, sein Mut und seine Lebensfreude trotz schwerer Krankheit werden mir immer ein Vorbild sein. Da, wo ich früher meine Liebe zu ihm fühlte, ist nun ein großes, zerfranstes Loch.
Ihr mögt euch fragen, was das in diesem Blog zu suchen hat. Es steht hier, weil ein Lückentext eine Lüge gewesen wäre. Die Trauer um meinen Vater ist Teil der „Reise“.
Ich trage meinen Mantel auch jetzt. Aber ich trage ihn offen und mit zurückgeschlagener Kapuze. Trotzdem dämpft er alle Töne der Freude.
Das Glück, das ich heute fühle, klingt wie ein Piano – begraben unter Schichten von Erde. Aber es klingt. Und mein Vater hat Musik geliebt …
Reinhard
Gegen sieben Uhr morgens steigen wir in Düsseldorf um in den „Sky Train“, der zu den Terminals schwebt. Unser Gepäck ist heute leicht. Schnell checken wir noch einmal die Flugdaten.
Wohin der Flieger geht? Falsche Frage. Heute interessiert und das Woher. Und noch mehr: das Wer!
Ein wenig unwirklich erscheint das Ganze selbst mir mit meinen 75 Jahren auf dem Buckel. Was vor zwei Jahren noch ein Wunsch war, soll heute Wirklichkeit werden. „Wir werden alles dafür tun, um zusammen sein zu können!“, so lautete unser aller Versprechen, als wir uns im Herbst 2019 von unseren Freunden aus Shiraz verabschiedeten.
Eine Maschine aus Ankara ist schon um kurz nach Sechs gelandet, eine zweite um Viertel vor Sieben. „Hoffentlich verpassen wir die Beiden nicht!“
Chrissie rollt dezent mit den Augen. „Firoozeh und Rasool kommen mit der zweiten Maschine. Bis die ihr Gepäck haben und durch die Zollkontrolle sind …“
Klingt plausibel. Die Warterei am Gepäckfließband hat mich selbst immer gequält. Und 90 Kilo Gepäck dürften auch für die Profis in der Kontrolle eine echte Herausforderung sein. Aber für Chrissie ist das Warten eine noch härtere Probe. Zwei Minuten vor der Abfahrt eines Zuges auf dem Bahnsteig zu stehen, hält sie für pure Verschwendung von Lebenszeit.
Eine Weile stehen wir an dem Ausgang, durch den unsere Freunde kommen müssten. Meine Liebste hält ihr Handy gezückt, weil sie die Ankunft filmen möchte, aber 20 Minuten später wird ihr der Arm lahm. Dann, um 07:50 Uhr, endlich ein Lebenszeichen!
Chrissies Miene hellt sich auf. „Firoozeh hat mir geschrieben.“ Sie liest mir vor. „Hallo, meine Chrissie. Wir sind Nähe einander.“
Ich muss lächeln. Chrissie auch.
Es geht ein paar Mal hin und her per Sprachnachricht, bis die beiden sich abgestimmt haben.
„Firoozeh will sich melden, sobald sie durch die Passkontrolle und die Gepäckabfertigung sind. Komm, lass uns noch einen Kaffee trinken!“
Von dem Café aus haben wir gute Sicht auf den Ausgang, den die Passagiere des Flugs aus Ankara passieren müssten. Chrissie nutzt die Zeit, um die Nachrichten auf dem iPad zu lesen. Ich gönne mir einen kurzen Ausflug vor die Tür, wo die Aschenbecher stehen. Für ein paar Minuten fühle ich mich entspannt.
Chrissie
Entspannt waren die letzten Wochen, nein Monate, wahrlich nicht. Was hatten wir für Zitterpartien! Die Unis, die für Rasool in Frage kamen, waren rar gesät. Da musste nicht nur der Notendurchschnitt des Bachelorabschlusses ausreichen, sondern er brauchte auch einen Master-Studiengang, der komplett in Englisch gehalten wurde – oder aber einen vorbereitenden Deutschkurs akzeptierte, obwohl er erst auf dem niedrigen A-Level zertifiziert ist..
Um sich zu bewerben, muss man für die Botschaft einen „Motivation Letter“ verfassen, aus dem ersichtlich wird, warum man in diesem Land, in dieser Stadt und an dieser Uni speziell diesen Studienschwerpunkt ausgewählt hat.
Zahlreiche Mails und Dokumente wechselten die Mailpostfächer zwischen Ankara und Bochum, um immer wieder neu bewertet und neu korrigiert zu werden.
Und die Unis ließen sich lange Zeit, bis sie reagierten. Doch am Ende hatte Rasool als Elektrotechniker freie Auswahl zwischen Furtwangen, Deggendorf, Berlin und … Trommelwirbel: Essen!
Könnt ihr euch vorstellen, wie das war, als wir noch gemeinsam in Ankara waren und diese Nachricht hereinflatterte? Einen Tag vor unserem hastigen Rückflug wegen Reinhards Leistenbruchs …
Falls Adrenalinausschüttung trainiert werden kann, sind wir körperchemische Bodybuilder geworden.
Firoozeh hat nur eine einzige Bewerbung geschrieben. An die Uni-Duisburg-Essen. Mit ihrem Bachelor in Biologie und einer empirischen Studie und Facharbeit über die minimale Wirkkonzentration von Myrte in Bezug auf Coli-Bakterien landete sie direkt einen Treffer an unserer aller Wunsch-Uni.
Reinhard
Alles klar? Beileibe nicht. Denn eine Zulassung zur Uni bedeutet noch lange kein Visum. Seit unserer eigenen Rückkehr aus Ankara bewegte uns vor allem diese Frage: Klappt es? Klappt es nicht? Wann endlich können „unsere“ Iraner nach Düsseldorf starten? Werden beide unabhängig voneinander ein Visum bekommen oder muss eine Person als Familiennachzug später kommen? Wie kann aus einem Land, das aus dem internationalen Bankensystem gejagt wurde, Geld auf ein deutsches Sperrkonto transferiert werden? Voraussetzung für ein Visum ist unter anderem ein Nachweis darüber, dass man seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten kann. Deshalb müssen rund 10.500 € pro Nase auf ein spezielles Konto überwiesen werden. So kommen immer neue Recherchen und Planungen ins tägliche Pflichtprogramm …
Auch die Lageberichte aus Ankara gehören inzwischen fest zu unserem Alltag. Aber da sind ja noch unsere eigenen Jobs. Chrissie arbeitet an einem neuen Projekt. Ich bekomme davon nur die endlosen Telkos mit, während derer das Arbeitszimmer für mich zu einem Minenfeld wird. Um was es geht, kapiere ich als IT-Laie nicht. Das muss ungefähr so sein, als müssten sie den Lastentransport von ausgehöhlten Baumstämmen auf stählerne Großcontainer verlegen. Die Menschheit hat dafür 20.000 Jahre gebraucht – Chrissie und ihr Kollege wollen oder sollen das in 20 Wochen schaffen …
Ich selbst fliehe vier Mal in der Woche für ein paar Stunden in die Wattenscheider City, um Migrantenkinder mit Deutschunterricht zu quälen. Um ehrlich zu sein: Deutsch ist eine völlig kaputte Sprache. Wieso ist ein Tisch maskulin, eine Glühbirne feminin und ein Mädchen ein Neutrum, also „keins von beiden“? Mit diesen und weiteren Logikkatastrophen könnte man das Deutschlernen auch zur Höchststrafe für jemanden erheben, der Vater, Mutter und den Familienhund abgeschlachtet hat …
Zurück zum Thema. So „ganz nebenbei“ kümmern wir uns um eine Wohnung für unsere Freunde. Für ein paar Tage könnten wir Firoozeh und Rasool unser Schlafzimmer überlassen, aber das wäre keine Dauerlösung. So suchen wir – genauer gesagt: Chrissie – nach einer kleinen Wohnung, die nicht am Ende der Welt liegt und trotz guter Verkehrsanbindung bezahlbar ist? Welcher Hausbesitzer reserviert eine Wohnung ausgerechnet (!) für Iraner, die er gar nicht kennt? Wie schließt man einen Vertrag ab, wenn die Mieter noch gar nicht da sind?
Chrissie
Die besten Ideen sind die naheliegenden. Meine beste Freundin wohnt in einer Genossenschaftswohnung. Sehr gepflegt, sehr günstig und ein wunderschöner Gemeinschaftsgarten gehört dazu.
Seit Juli kämpfe ich um eines der heiß begehrten Quartiere. Den Mitgliedsbeitrag, der die Kaution ersetzt, können wir vorstrecken. Doch „ganz nebenbei“ geht das leider nicht. Allein von meinem Handy aus zähle ich 61 Anrufe bzw. Anrufversuche. Mindestens die gleiche Menge vom Festnetz aus. Meist erreicht man niemanden.
Und es ist eine Menge Überzeugungsarbeit nötig. Es ist schon schwierig genug, für jemand anderen aus dem Ausland per Vollmacht einen Mietvertrag abzuschließen. Hinzu kommt, dass Firoozehs iranisches Passfoto aussieht, als stammte es von einem Fahndungsplakat von Interpol. Im Iran ist es nämlich für Frauen vorgeschrieben, ein biometrisches Passfoto mit schwarzem Hejab, aus dem kein Härchen hervorlugt, zu verwenden. Am Ende bin – auch dank unseres Blogs – erfolgreich. Die verantwortliche Sachbearbeiterin kann sich selbst überzeugen, dass es keine Fundamentalisten sind, die bald Mieter der Wohnung sein werden. Den Mietvertrag haben wir nach Ankara gemailt und als Express zurückerhalten. Pünktlich zum 16.11. konnten wir die Wohnung übernehmen. 15 Gehminuten von uns entfernt.
Klingt wie ein Märchen? Ja, aber unseres ist wahr. 🙂
Reinhard
Der Kaffee ist getrunken. Die ersten Passagiere quetschen sich durch den Ausgang in den Begrüßungsbereich, in der Mehrzahl Türkinnen und Türken, die in der alten Heimat eingekauft hatten: Viele sind mit prallen Taschen, schweren Kisten und monströsen Schrankkoffern beladen. Der Gepäckzuschlag dürfte den ursprünglichen Preis für das nackte Flugticket um 200% und mehr übersteigen. Firoozeh und Rasool? Fehlanzeige. Zumindest Rasool müsste bei seiner Körpergröße so langsam aus dem Menschengewimmel herausragen – aber er ist nicht zu sehen. Chrissie zielt erneut mit der Handykamera ein Stück abseits des Getümmels auf den Ausgang. Ich stehe neben ihr.
„Wo bleiben sie denn?“
Dann ihr Aufschrei, als uns jemand von hinten an die Schulter tippt. Wir schwenken um die eigene Achse.
Sie sind es!
Gekleidet und beladen wie für eine Himalaya-Expedition, das halbe Gesicht vom Mund-Nasen-Schutz verdeckt. Aber sie sind es. Unverkennbar!
Für einen Wimpernschlag verdrängt unsere Verdutztheit die Freude über das Wiedersehen. Doch dann liegen wir uns in den Armen, drücken und herzen uns und können es irgendwie nicht fassen, dass vor uns keine Phantasiegebilde, sondern die Menschen stehen, auf die wir so lange Zeit gewartet haben. Muss ich extra erwähnen, dass nicht nur bei den Mädels die Augen feucht waren?
Chrissie
Ist das ein schöner Abschluss für unseren Blog? Mit der Ankunft von Firoozeh und Rasool sind ein Herzenswunsch und ein Traum in Erfüllung gegangen, der uns vier verbunden hat und nach wie vor verbindet.
Wir sind zu einer Weltreise gestartet, aber nur von einer Langzeitreise zurückgekehrt. Wir haben in diesen Monaten gelernt, dass das Reisen für uns wenig mit Orten, aber viel mit den Menschen zu tun hat, die uns begegnen.
Mein Vater hat unsere Reisen stets mit großem Interesse verfolgt. Ich weiß, dass er auf seinem Tablet unsere Route mit dem Finger nachgegangen ist, sich unsere Fotos und Filme angeschaut hat und in Gedanken oft bei uns war.
Seine Reise ist zu Ende. Aber eines weiß ich sicher: er wäre glücklich gewesen, dass wir gemeinsam mit Firoozeh und Rasool einen neuen Weg einschlagen auf der Reise namens „Leben.“
Danksagung
Ja, die Reise ist vorbei und doch auch nicht. Doch dies ist der letzte Blogbeitrag zu „dieser“ Reise. Wer weiß schon, was die Zukunft noch für Überraschungen bereithält. …
Wir bedanken uns bei allen Leserinnen und Lesern des Blogs, die unsere Reise begleitet, kommentiert und uns ermutigt haben.
Nicht vergessen werden sollten der Reise Know-how Verlag in Bielefeld, der uns unterstützt hat, sowie die Redakteure von Geo (Heft 04/2020), focus,, My life und der WAZ-Bochum, die über Reinhard, über uns und unsere Reise berichtet haben.
Besonders herzlicher Dank gilt all jenen, die es ermöglicht haben, dass Rasool und Firoozeh nach Deutschland kommen und in weniger als drei Wochen eine fertig renovierte und eingerichtete Wohnung beziehen konnten – mit Tipps und Taten, Hilfsangeboten und Spenden. Dazu gehören nicht nur, aber besonders:
Heidi und Bodo, Uschi und Clemens, Jana, Tanja und Kevin, Simone und Regina, Jan und Lotte sowie Lotta. Wir haben euch lieb!
Wir wünschen euch allen einen guten Rutsch ins neue Jahr. Bitte bleibt gesund und feiert das Leben, lebt eure Träume und gebt niemals auf!
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P.S: Wir planen eine Buchveröffentlichung für unsere Reisegeschichte. Falls ein Verlagsmitarbeiter dies liest und Interesse hat oder aber ihr Kontakte zu einem Verlag habt, der interessiert sein könnte, würden wir uns freuen, Nachricht zu erhalten. 🙂
7 thoughts on “Ein Ende und ein Anfang”
Selam dostlar,
Bloğu anca keşfedebildim. Sanırım sondan başladım okumaya. Çevirici bana yardım etti. Muhteşem bir final ya da dediğiniz gibi bir başlangıç. İkinize de selamlar,
Teşekkürler sevgili Ahmet! İkiniz de tarihimizin bir parçasısınız. Bir gün tekrar görüşmeyi umuyoruz. Ya Almanya’da ya da Türkiye’de!
Ein Blick zurück!
Das Jahr 2021 mit all seinen Höhen und Tiefen liegt hinter uns.
Wir sind dankbar für gemeinsam mit Euch verlebte Stunden, glückliche Momente, aber auch Zeit der Trauer, all das gehört zu einer Freundschaft.
Happy New Year 2022 mit den allerbesten Wünschen, Gesundheit, Frieden, Liebe, Glück, Freude im Herzen für Euch, Firoozeh, Rasool, unsere Familien und für uns alle!
Euer Blog war und bleibt einzigartig, merci!
Erst einmal unser Beileid an dich liebe Chrissie.. bitte fühle dich ganz lieb umarmt von uns.
Es ist schön zu lesen das ihr liebe Freunde fürs Leben gefunden habt. War bei jeder Geschichte gerührt und begeistert dabei. Ich finde es ganz grosse Klasse was ihr zwei auf die Beine gestellt habt… Unser Chapeau an euch.
Wir wünschen euch einen guten Rutsch ins neue Jahr. Auf viele weitere Abenteuer… Viel Gesundheit…
Und bitte…..
Bleibt so ihr seid.
Ganz ganz liebe Grüße Andreas und meinereiner
Ja, Freude und Trauer liegen oft dicht beieinander. Danke dafür, dass ihr Beides mit uns teilt! Die Reise haben wir nur geschafft, weil wir überall hilfsbereite fremde Menschen getroffen haben. Jetzt freuen wir uns darüber, dass es auch hier so viel Unterstützung gibt. Nur auf uns gestellt, hätte nichts so gut geklappt. So denken wir gerne an eure spontane Hilfe bei unserem Einzug in den Sachsenring zurück! – Für 2022 wünschen wir euch Gesundheit, Glück und Liebe!
Vielen Dank, Ihr Lieben, für diesen wunderbaren Statusbericht mit
„Gänsehautfeeling“!
Mit Freude und all unseren guten Wünschen haben wir auf diesen Tag gewartet! Umso mehr freuen wir uns darüber, dass nun Firoozeh und Rasool nach einem langen Weg das Ziel „Wattenscheid“ erreicht haben!
Euch beiden, liebe Chrissie und lieber Reinhard, herzlichen Dank für Euer Engagement, Euren Einsatz für liebenswerte Menschen, die eine große Bereicherung unseres Freundeskreises sind!
Wir sagen „merci“ und wünschen unseren gemeinsamen Freunden Glück und einen guten Start in ihren neuen Lebensabschnitt!
Danke, dass wir Euch, Firoozeh und Rasool dabei begleiten dürfen!
Ihr Lieben, das Lob geht mit 100 % Aufschlag an euch zurück. In Nachbarschaft mit euch kann gar nichts schiefgehen – höchstens, dass uns der Himmel auf den Kopf fällt! 😉