Singen am See – die Leiste tut weh
Reinhard
Es ist zwei Tage her, dass ich mein Lächeln entdeckt habe. Noch immer warten wir gespannt auf die Antwort der Uni Essen. Eigentlich ist alles besser als die Warterei. Aber als Ensaf am Abend vorschlägt, dass wir am nächsten Morgen einen Ausflug zu einem See machen, fühlen wir uns eigentlich alle zu faul dafür. Früh aufstehen, Einkaufen, Picknick vorbereiten .. muss das sein? Der Park ist doch auch schön für ein Treffen.
Aber Ensaf bleibt beharrlich. „Ich habe schon eine große Portion vegane Dolma vorbereitet und meine Freundin Çiğ Köfte. Guckt euch mal die Fotos an!“
Wir sehen uns die Bilder von den Leckereien und von dem See an. „Hübsch“ wäre deutlich untertrieben. Kurze Beratung. „Kommt, rafft euch auf“, sagt Chrissie. „Sie hat sich so viel Mühe gemacht. Wird bestimmt schön.“
Ich hadere noch. Stausee, denke ich. Kenn ich. Haben wir selbst. Möhnesee, Sorpesee, Baldeneysee. „Hoffentlich, gibt es da eine schöne Kneipe …“
Chrissie kommentiert das (wie meist) mit der Schärfe eines Skalpells: „Mach so weiter! Dann bist du bald einer der faulen Rentner, die von ihrem Ohrensessel aus über alles Neue nur noch meckern!“ Peng!
Und so machen wir uns tags drauf gegen 10:30 Uhr auf den Weg. Ein Taxi bringt uns. Ui, der See ist groß und die Zufahrten sind zahlreich. Nach einigem Rumgekurve und mehreren Telefonaten landen wir in einem riesigen Parkgelände. Überall gibt es kleine, offene Holzpavillons, drinnen und draußen Biergartengarnituren und – mit Sicherheitsabstand – riesige eiserne Grillöfen. Das gesamte Gelände bietet Sonne und Schatten, wird offenbar regelmäßig entmüllt und hat saubere Toilettenanlagen. Die besten Voraussetzungen dafür, dass Familien und Freunde hier auf türkische Weise picknicken können.
Ensaf, Humam und zwei Freundinnen, Mariam und Emine, haben eine Menge vorbereitet. Außer den Weinblättern und den Çiğ Köfte gibt es gekochte Kartoffeln, Knabberzeug und Getränke. Rasool hat mariniertes Hähnchenfleisch mitgebracht und Chrissie hat mit Firoozeh einen großen Pott Salat geschnippelt. Och, denke ich, als alles nett aufgestellt ist. War vielleicht doch eine gute Idee, hierher zu kommen.
Chrissie
Die Sonne lacht und die Stimmung ist gut. Ensafs Freundinnen sind supernett. Während Reinhard seine Aufmerksamkeit schon dem Grillofen widmet, unterhalte ich mich mit den türkischen Frauen. Mari, wie sie lieber genannt wird, spricht hervorragendes Englisch.
Kein Wunder. Sie erzählt, dass sie ein Erasmussemester in Bialystok absolviert hat. Als Reinhard das hört, fragt er: „An der Ostgrenze Polens zu Belarus, richtig?“ Kurz darauf sind die beiden in ein tiefes Gespräch versunken, während ich mich mit der jüngeren Cousine beschäftige. Ich finde sie total süß. Emine ist 15 und anders als viele Altersgenossinnen scheinen ihr Make-up und Mode egal zu sein. Sie trägt Jogginghose und ein großes Shirt. Die langen Haare sind lässig zusammengebunden. Sie ist aufmerksam, selbstbewusst und voller … ja, sorry, es klingt kitschig … voller Liebe. Trotz der Sprachbarriere stellen wir schnell fest, dass wir uns sehr mögen. Zwischendurch drückt sie mich immer wieder und arbeitet dann weiter: Holzkohlen sammeln, den Grill anfeuern, den Tisch decken. Dabei hat sie stets ein koboldhaftes Grinsen im Gesicht.
Beim Essen wird viel gelacht. Humam zeigt uns seine antrainierten Muckis, ist aber bei allen anderen Themen sehr schüchtern und zurückhaltend. Steilvorlagen, um ihn aufzuziehen. Besonders Firoozeh hat Spaß daran, ihn in Sachen Heirat & Co. zu necken. Sieht man Humam mit ausgestreckten Fingern und Victory-Zeichen, würde man nie vermuten, wie schnell er errötet, wenn es um solche Themen geht. Reinhard freut sich, dass „wenigstens“ Mari raucht. Gemeinsam gönnen sie sich eine Friedenspfeife nach der anderen. Mit ihr als Dolmetscherin erfahren wir, dass Emine Einzelkind ist, aber Geschwister vermisst. Kommt daher ihr Bedürfnis nach Nähe? Vielleicht. Köchin möchte sie werden und später ein eigenes Restaurant eröffnen. Ich schaue sie wie so oft an diesem Tag an und denke: Die schafft das!
Reinhard
Die Stunden verfliegen und ich fühle mich wohlig wie ein Bär, der sich die Sonne auf den Pelz scheinen lässt. Als wir unseren Hunger gestillt haben, schlägt jemand vor, dass wir singen und tanzen könnten. Für Firoozeh und Rasool so folgerichtig und wichtig wie das Atmen. Aber auch die anderen sind begeistert. Jeder ist mal dran. Aber ich als Tanzbär? Nein, danke. Außerdem meldet sich mittlerweile immer häufiger bei Bewegungen meine Leiste. Aber die Stimmbänder funktionieren. Auf die „Internationale“ verzichte ich in diesem Land lieber. Man muss das Schicksal ja nicht herausfordern. „Die Moorsoldaten“? Passen nicht zu einer fröhlichen Feier. Aber dann fallen mir die „Partisanen von Amur“ ein. „Durchs Gebirge, durch die Steppen zog unsere kühne Division …“.
An den anderen Grillhütten nimmt niemand Anstoß daran, dass es bei uns etwas lauter zugeht. Auch das ist ein Anlass zum Lächeln.
Chrissie
Die Gesangseinlagen sind für mich ein echtes Highlight. Wie kann man Kultur besser unvoreingenommen kennenlernen als über die Musik. Ensaf schlägt vor, dass jeder ein Lied in seiner Heimatsprache singen soll. Alle sind einverstanden. Andächtig sitzen wir am Tisch und lauschen dem und der jeweils Singenden. Ein Gefühl von Verbundenheit entsteht. Wir sind verschieden, aber trotzdem eins. Jetzt und in diesem Moment. Als Mari aufsteht und mit ihrer schönen klaren Stimme ein trauriges Liebeslied anstimmt, rollen bei Ensaf bald Tränen.
Auch ich bin bewegt. Ensafs syrisches Lied ist sehr fröhlich und rhythmisch. Selbstverständlich klatschen alle dazu in die Hände. Humam ist zu schüchtern, um zu singen, und drückt sich. Ich bin einfallslos und singe einfach nochmal Bella Ciao, was jedoch begeistert aufgenommen und schnell mehrstimmig geschmettert wird. Rasool und Firoozeh stimmen ein Duett an. Es ist ein Song, den ich schon oft bei ihnen gehört habe und der mittlerweile für mich ein echter Ohrwurm ist. „Rooze Sard“ (= kalter Tag) von Shadmehr Aghili. Hört gern mal rein.
An meinem letzten Tag bei unseren Freunden konnte ich dank Rasool, der mir geholfen hat, die Lautsprache aufzuschreiben, den Originaltext mitsingen. Aber dieses Video halte ich besser unter Verschluss. 😉
Reinhard
Rasool hat Spielkarten mitgebracht: „Mau Mau“ kennt man auch südlich des Bosporus. Gar nicht einfach, an einem langen Tisch mit acht Leuten Karten zu spielen und den Überblick zu wahren, wer gerade dran ist – zumal der Wind sich hin und wieder anstrengt, ein paar Karten aus dem „Stock“ zu entführen. Hinzu kommt, dass einige von uns es gewohnt sind, das Spiel entgegen dem Uhrzeigersinn zu spielen. Und: Jeder kennt das Spiel, aber immer in einer anderen Variante. Verwirrung pur und Lachsalvengarantie, wenn mal wieder jemand ratlos in die Runde guckt.
Der Verlierer jeder Runde muss eine kleine Aufgabe umsetzen. Stumm setze ich ein kleines Gebet in den Atheistenhimmel ab, dass es mich nicht trifft. Die letzte Verliererin musste zu den fremden Grillnachbarn ziehen, um ihnen zu sagen: „Ich liebe euch.“
Manchmal, denke ich, ist es besser, NICHT zu spielen.
Als es dunkel wird und wir gerade mit dem Gedanken spielen, aufzubrechen, tauchen noch zwei Jungs auf: Maris Cousins. Als wir das Klappern von Flaschen hören, hoffen wir schon auf ein Bierchen zum Abschied, aber sie haben nur Alkoholfreies mitgebracht. Das hindert einen der Burschen nicht daran, sein Talent als Alleinunterhalter zu demonstrieren und den ganzen Rest der Gruppe noch einmal zum Mittanzen zu bewegen.
Dennoch sind wir froh, als wir nach einer ausgiebigen Verabschiedungszeremonie müde im Taxi sitzen können.
Das Schlafen kommt in diesen Tagen eindeutig zu kurz. Schließlich haben wir Urlaub.
Nicht zum Lächeln ist das, was Frau Doktor Bogenstahl nach gründlichen Internetrecherchen über die Störungen in meinem Fortbewegungssystem herausfindet.
Chrissie
Gerade habe ich mir den Schlafanzug angezogen und möchte mich ins Laken kuscheln. Morgen ist unser letzter Tag in Ankara, bevor die anstrengende Rückreise beginnt. Mir graut jetzt schon davor. Die Hinfahrt sitzt mir noch immer im Rücken. Reinhard steht mit hochgezogenem Shirt vom Spiegel. „Was ist?“, frage ich. „Zugenommen?“
„Nein, aber guck mal.“ Er dreht sich um und zeigt mir eine Ausbuchtung im Unterleib, die die Größe und Form einer Gewürzgurke hat. Ich bin schlagartig wach. „Ach, du Scheiße, was ist das denn?“
„Keine Ahnung. Hab das seit ein paar Tagen. Verschwindet aber zwischendurch.“
Nein, ich rege mich nicht auf. Warum auch sollte man sich auch Sorgen machen oder einen Piep sagen, wenn ein Alien-artiges Objekt im Unterleib sitzt?
„Komm mal näher“. Nahe der uralten Blinddarmnarbe betaste ich vorsichtig die Ausbuchtung. „Tut das weh?“
„Eigentlich nicht. Nur manchmal.“
Ich nicke, habe so eine Ahnung: „Leg dich bitte mal aufs Bett?“
Reinhard
Automatisch fällt mir die Parallele dazu ein. Frauen, die voller Sorge Hinweise auf Brustkrebs suchen.
Schon liege ich. „Versuch mal, ob du das reindrücken kannst. Aber vorsichtig. Wenn es wehtut, aufhören.“
Mutig drücke ich. Es geht und tut auch nicht weh. Chrissie wirkt ein bisschen erleichtert: „Ich vermute einen Leistenbruch. Warte mal, ich check das kurz im Netz.“
Gemeinsam schauen wir uns Bilder von Leistenbrüchen an. Passt. Die Beule stammt von einem Stück Darm, der ungehindert seine Lage verändern kann. Chrissie macht mir den Netdoktor. „Fieber?“ „Nein.“ Aufgeblähter Bauch?“ „Nein.“ „Übelkeit?“ „Nein.“
„Ich finde, du solltest trotzdem zum Arzt gehen morgen. Im schlimmsten Fall kann man sich den Darm einklemmen. Das ist dann nicht mehr so lustig.“
„Muss man das operieren?“
„Wahrscheinlich. Ist aber heute eine Routinesache.“
„Aber hier in Ankara? Wo mich niemand im Krankenhaus versteht?“
Die einzige Schlussfolgerung drängt sich auf und wird am nächsten Morgen offen ausgesprochen: auf schnellem Weg nach Hause! Schnell heißt: Die geplanten drei Tage im Bus verkneifen wir uns lieber. Eigentlich wollten wir nie wieder fliegen, aber wir müssen beide ehrlich zugeben, dass uns diese Aussicht trotz des Schreckens nicht nur unangenehm ist. Am besten einen Flug nach Düsseldorf. Das bedeutet auch: Die paar Tage Erholung, die wir auf der Rückfahrt von Berlin aus im brandenburgischen Neuruppin verbringen wollten, werden gestrichen. Kein Besuch in der Geburtsstadt von Theodor Fontane in einer schönen Ferienwohnung am See. Ciao, Theo!
Am nächsten Tag mach sich Chrissie an die Arbeit – Firoozeh und Rasool informieren und alle Buchungen canceln. Bus von Ankara nach Istanbul, Bus von Istanbul nach Sofia, Hotelreservierung, Bus von Sofia nach Berlin und zuletzt unsere AirBnB Buchung für Neuruppin. Nicht jeder Anbieter erstattet den vollen Betrag.
Firoozeh und Rasool behandeln mich derweil so sorgsam, als hätte sich mein dickes Fell in eine Eierschale verwandelt. Ich versuche sie zu beruhigen: „Alles Routinesache.“
Dann geht es um den Rückflug. Chrissie entdeckt einen günstigen Flug, der aber erst am Samstag startet. Immerhin beruhigen wir unser Gewissen mittels Überkompensation via Atmosfair. Wir können einen Tag länger in Ankara bleiben, als wir es bei einer Tour auf der Straße gekonnt hätten. Zeit für eine schöne Abschiedsfete – diesmal mit nur wenigen Tränchen, denn diesmal haben wir die festen Zuversicht, dass wir uns drei Monate später in Deutschland wiedersehen werden.
Nachtrag
Für alle Besorgten: In Ferienzeiten die passenden Ärzte zu finden, ist fast so beschwerlich wie per telefonischer Kaltaquise einen Röhrenfernseher an den Mann oder an die Frau zu bringen. Aber am Ende hat alles geklappt – und der Rentner in der Titelzeile dieses Blogs hat schon wieder Fernweh. Der nächste Urlaub ist leider noch weit weg, doch das nächste Abenteuer beginnt, wenn Firoozeh und Rasool mit dem Flieger in Deutschland landen. Bis dahin wird es noch ein kleines Weilchen dauerr, aber ihr werdet dabei sein! 🙂