Burg-Romantik
Reinhard
Wie meistens nach dem Frühstück checken wir über unsere Handys und Tablets gebeugt, was es Neues gibt in der Welt. Firoozeh blickt als Erste auf. „Ensaf fragt, ob wir Lust haben zur Burg zu fahren.“
„Kennen wir doch!“, maule ich zuerst. Den langsam verfallenden Turm mit der roten türkischen Fahne haben wir doch schon vor zwei Jahren besucht. Der Aufstieg war verdammt mühselig – und: „Da sehen wir doch nichts Neues!“
Doch ich lasse mich überreden. Am Ende bin ich positiv überrascht. Ein Taxi bringt uns auf den Berg, aber wir landen nicht an der Ruine des Turms, sondern wenige Hundert Meter weiter vor einer imposanten Festung, deren Mauern besser erhalten sind. Wie doof waren wir eigentlich vor zwei Jahren, denke ich. Offenbar sind wir vor zwei Jahren an einer entscheidenden Weggabel nach links abgebogen, wo immer noch hoch über der Stadt die riesige rote Fahne weht – mit einem Halbmond statt mit Hammer und Sichel. So kommt´s, denke ich, wenn man die Zeichen nicht richtig deutet. Manchmal muss man wohl auch nach rechts gehen.🙈
Beim Aufstieg passieren wir eine Siedlung armer Leute. Viele der kleinen Häuser sind mit Bruchsteinen gebaut, die vermutlich aus den Burgruinen stammen. Die Menschen hier halten sich mit Handarbeiten und Andenkenständen, Kiosken und Cafés über Wasser. Ohne den Feiertagstourismus wären sie wohl deutlich schlechter dran. Und manche Investoren, berichtet die kundige Ensaf, würden diesen „Schandfleck“ gerne abreißen, um hier teure Wohnungen zu errichten. „Aber die Leute wollen nicht wegziehen. Es sind ihre Häuser und die Aussicht ist so schön.“
Da hat sie Recht. Der Ausblick auf die Millionenstadt ist das Treppensteigen wert. Neben mir sehe ich einen Vater mit Kleinkind auf der Schulter, der auf einer Steinmauer stehend für ein Foto posiert. Direkt hinter ihm der steile Abgrund.
Der hat Nerven, denke ich. Diese Art von Abenteuerlust ist mir mit fast 75 Jahren fern. Aber noch etwas anderes stört mein Wohlgefühl. Druck in der rechten Leiste. Das Hüftgelenk?
„Uschi und ich hatten das auf dem Jakobsweg auch manchmal“, beruhigt mich Chrissie. „Geht bestimmt bald wieder weg.“
Tatsächlich ist der Schmerz nach einer kurzen Pause verschwunden und ich kann auf dem langsamen Abstieg all das betrachten, für das man bergauf kein Auge hat: Verkaufsstände der Anwohner mit bunten, selbstgehäkelten Tischdeckchen oder Schultertaschen. Etwas tiefer entdecken wir einen nostalgischen Gebrauchtwarenladen. Für mich ist es wie ein privates Elektromuseum. Wählscheibentelefone, Grätz-Radios der Fünfzigerjahre, 45er Polydor-Schallplatten, sogar Videokassetten von Betamax und Video 2000 sind zu finden.
Da werden Erinnerungen wach, die bis in meine Jugendzeit oder Kindheit zurückreichen. Noch als ich bereits in die Schule ging, fuhr mein Vater für ein Telefonat mit Freunden in Amsterdam oder Berlin zur Hauptpost in Dortmund, um ein Ferngespräch anzumelden, das er dann in einer Holzkabine führen und später an einem Schalter bezahlen musste. Vorwahlnummern für private Telefone gab es erst später.
Gegenüber lockt ein Café. Über und neben dem Eingang hängen fünf wunderschöne Handpuppen aus einem Marionettentheater. Wir beschließen, dort auf den Sonnenuntergang zu warten. Chrissie bittet den leutseligen Wirt um eine Speisekarte, überall im Nahen Osten „Menü“ genannt. Der Mann lacht: „Das Menü bin ich!“
Chrissie
Limo für alle, Reinhard wählt seine Lieblingsdroge Kaffee mit aufgeschäumter Milch.
Der Platz ist idyllisch, die Gruppe versteht sich gut. Eine Weile habe ich Gelegenheit, mich mit Ensaf allein zu unterhalten. Ich bin beeindruckt von ihrer Persönlichkeit. Um ihre Privatsphäre zu wahren, kann und will ich nicht zu sehr in die Tiefe gehen. Aber so viel kann ich sagen: Das Kopftuch muss nicht, aber kann in vielen Fällen ein Symbol der Unterdrückung sein. Aber man sollte niemals den Fehler machen, zu denken, dass die Frauen, die unter diesen Kopftüchern stecken, schwach sind. Ich glaube, das sind sie in den wenigsten Fällen.
Während die Männer sich bei einem zweiten Getränk weiter angeregt unterhalten, ziehen wir Frauen ein wenig durch die kleinen Geschäfte und albern herum.
Plötzlich ist Ensaf verschwunden. Suchend drehen wir uns um die Achse, doch da kommt sie schon wieder aus einem Andenkenladen heraus. Sie streckt mir die Hand entgegen und überreicht mit ein kleines Papiertütchen. „Hier, Chrissie. Ich möchte dir etwas schenken.“
Ich bedanke mich bei ihr. Fühle mich gerührt, aber auch verlegen. Wofür habe ich das verdient? Hoffentlich hat sie nicht zu viel Geld ausgegeben, denke ich. Ensaf scheint meine Gedanken zu lesen. „Es ist nur eine Kleinigkeit“, sagt sie. „Ich möchte, dass du etwas hast, das dich an mich erinnert.“
„Du bist so lieb“, antworte ich. „Aber dafür brauche ich kein Geschenk.“ Trotzdem packe ich neugierig aus. Es ist ein Magnetpin mit einem geschnörkelten Schriftzug.
„Das Zeichen bedeutet Mashallah“, erklärt sie. „Das ist arabisch und bedeutet so viel wie ‚Gott behüte dich‘. Das Zeichen soll dich vor allem Schlechten beschützen.“
Für den Moment vergesse ich Corona. Ich muss sie einfach kurz drücken. „Danke! Der Pin bekommt einen Ehrenplatz an unserem Kühlschrank und ich werde so jeden Tag an dich denken, wenn ich ihn sehe.“ (Und genauso ist es nun! :-))
Die Sonne senkt sich. Wir kehren zu den Männern zurück, verlassen das nette Lokal und steigen wieder hinauf. Am Fuß einer hohen Steinmauern finden wir einen hübschen Platz, um den Sonnenuntergang zu beobachten. Die nachfolgenden schönen Fotos stammen von Firoozeh (lieben Dank dafür!!!)
Rechts unter uns auf den Stufen sitzen einige alte Frauen in geblümten Kleidern und verkaufen Ketten, Armbänder und Handarbeiten. Es ist angenehm warm und idyllisch. Der Himmel färbt sich rot. 100% Wohlgefühl. Wie so oft in unserer Zeit in Ankara beginnt Rasool ein Liedchen zu trällern. Es steckt an. Nacheinander singen wir in unseren jeweiligen Nationalsprachen ein Lied und lauschen einander. Als wir am Ende sechsstimmig Bella Ciao singen, applaudieren die Verkäuferinnen uns. Ich schaue Reinhard an. Er sieht so glücklich aus wie ich mich fühle.
Reinhard
Ein schöner Ausflug war das.
Unten, schon im Dunkeln, verabreden wir uns für den übernächsten Tag zu einem weiteren Ausflug. Als wir das Taxi besteigen, meldet sich meine Leiste wieder. Ärgerlich.
Zu Hause tauschen Firoozeh und Chrissie ihre tausend Handyfotos und beginnen mit einer kritischen Sichtung. Irgendwann beginnen die beiden zu tuscheln und vier Augen richten sich auf mich. „Was?!?“
„Du siehst auf allen Fotos so aus, als hättest du in eine Zitrone gebissen. Kannst du nicht mal lächeln?“
„Kann ich nicht! Meine Anatomie ist defekt.“ Ich lüge nicht. Ich kann meine Oberlippe wirklich nicht hochziehen und wie die Mädels meine Zähne zeigen. „Ich trainiere ja nicht für ‚Germanys Next Topmodel!“, schiebe ich nach.
„Aber guck doch mal selbst“, sagt Chrissie und setzt sich neben mich. Auf ihrem iPad zeigt sie mir die Fotos in Vergrößerung. Es stimmt. Ich steche auf jedem Gruppenfoto negativ hervor. Mehrere lachende Gesichter und ein Griesgram.
„Du siehst überall aus wie Grumpy Cat“, stichelt Chrissie weiter. (Wer Grumpy Cat nicht kennt, klickt bitte auf den nachfolgenden Link aus der Ecosia Bildersuche. Die wohl berühmteste Katze Amerikas)
„Wenn ich davon ein Foto in den Blog stelle, denken alle, du bist zwangsweise hier!“
Mist, ich seh auf den Bildern wirklich kacke aus. Aber wie soll ich das ändern? Über Witze lachen – kein Problem. Aber lieblich lächeln? Als die Frauen das Thema wechseln, verziehe ich mich ins Bad und betrachte mein Spiegelbild. Kann man das Fotogrinsen trainieren? Versuchsweise übe ich ein paar Grimassen – so wie vor fast 70 Jahren vor dem Spiegelschrank meiner Oma Mimi. Böse gucken? Klappt prima. Nachdenklich? Na ja, so tun als ob, kann ich. Beide Male reichen Stirn und Augen. Das Lächeln hingegen ist viel schwieriger. Irgendwann entdecke ich, dass ich meine Mundwinkel auch nach außen ziehen kann. Sieht, finde ich, völlig debil aus. Mal sehen, was die anderen sagen ..
Wieder zurück im Wohnzimmer warte ich auf eine passende Gelegenheit, um meine Mundwinkel einen halben Kilometer nach Osten und nach Westen zu ziehen. Chrissie lacht sich scheckig. „Wie geil sieht das denn aus! Ich habe noch nie ein so unechtes Lächeln gesehen.“ Aber Firoozeh strahlt mich an. „Das sieht sehr schön aus.“
Das Theater hat sich gelohnt. Und diesmal ist mein Grinsen echt.
2 thoughts on “Burg-Romantik”
Danke, Ihr Lieben, für diese wunderbaren Eindrücke von Euren gemeinsamen Erlebnissen mit Firoozeh, Rasool sowie den neu gewonnenen Freunden Ensaf und Humam!
Es immer wieder schön, dabei zu sein und Euren Blog zu verfolgen!
Besonders beeindruckt sind wir von Euren Fotos, Euren glücklichen Gesichtern und Ensaf‘s Geschenk! Das geht zu Herzen! Liebevolle kleine Gesten sagen mehr als 1000 Worte!
Die Sache mit dem Lächeln schaffst Du noch, lieber Reinhard!
Wir sind gespannt, wie es weitergeht in Ankara; werden wir uns bald mit Firoozeh und Rasool in Bochum treffen können?
Liebe Heidi, lieber Bodo, Dank für das Lob und die treue Begleitung auf unseren Touren! Wir sind sehr zuversichtlich, dass ihr Firoozeh und Rasool noch in diesem Jahr leibhaftig kennenlernen könnt!