Vorurteile verlernen
Chrissie
Die Tage vergehen wie gehabt mit Zeit im Park, gutem Essen und einem gelegentlichen Bierchen.
Spannender sind die Abende und die Nächte. Lange und tiefe Gespräche, in denen wir viel über das Leben im Iran, die gesellschaftlichen Strukturen und über die Menschen erfahren. Faszinierend ist für uns, welche Rolle in Sachen Liebe oftmals das Geld spielt. Darüber hatten wir bereits in Teheran einiges – für unsere Ohren sehr abschreckendes – von unserem Gastgeber Ahmad erfahren.
Der Freund hatte kritisiert, dass für die meisten Frauen in erster Linie zählt, was für ein Auto man fährt. Die ersten Verabredungen ohne den Rest der Familie müssen in einem teuren Restaurant stattfinden. Hier wird vor allem darauf geachtet, wie großzügig sich der einladende Mann verhält. Bei diesen Dates ist es keine Seltenheit, dass genau abgeklopft wird, welche Vermögenswerte ein Heiratskandidat hat. Wieviel verdienst du? Hast du eine große Wohnung? Kannst du mir schöne Kleider kaufen? Ein Auto schenken?
Romantisch? Nicht wirklich! Ahmad hatte deshalb häufig gesagt, dass er sich eine Frau aus einem anderen Kulturkreis wünscht. Eine, für die andere Werte zählen. Eine, die seinen Charakter und nicht sein Geld liebt.
Damals hatten wir ungläubig den Kopf geschüttelt. Wie kann so etwas sein?
Mit Firoozeh und Rasool tauchen wir tiefer in die Thematik ein. Auch die beiden mögen dieses Verhalten nicht. Mehr noch: Ihre Geschichte hebt sich ab von vielen anderen. Kennengelernt haben die beiden sich in einem Englischkurs. In einem Schnellrestaurant nach einer Englischstunde haben die beiden sich lange unterhalten und sind sich dabei nähergekommen. Nach einigen Wochen waren beide sicher, dass es Liebe ist.
Obwohl sie „nur“ mittellose Studenten waren, haben sie sich entschlossen, ihr Leben selbst aufzubauen. Firoozeh endet ihre Erzählung mit dem Satz: „Ich habe ihn gefragt, ob er mich wirklich liebt und mir treu sein wird.“
Der Rest ist Geschichte, wie man unschwer erkennen kann. Beide tauschen in der Erinnerung einen liebevollen Blick aus.
Einige mögen nun mit den Schultern zucken. Na und? Sicher, bei uns vielleicht keine große Sache. Im Iran schon.
Dazu muss man die wirtschaftliche Lage berücksichtigen, in der sich das Land befindet. Viele Menschen müssen mit umgerechnet 500 Euro monatlich auskommen. Die Inflationsrate liegt aktuell bei 39%!!! Und doch kosten die Dinge, die einem das Leben leichter und schöner machen, das gleiche Geld wie hier im Westen.
Ein Auto, ein Smartphone, eine Waschmaschine, ein Kühlschrank, ein Fernseher – für die meisten von uns selbstverständlich. Für den iranischen Durchschnittsverdiener sind diese Dinge teuer – für Geringverdiener unerschwinglich. Und es gibt noch weitere Schwierigkeiten. Rasool erklärt uns, wie schwierig es für ein junges Paar ist, eine Wohnung zu mieten: „Bei uns wird die Miete für ein ganzes Jahr im Voraus verlangt. Und die Vermieter können nehmen, was sie wollen. Vor allem in den großen Städten wie Teheran oder Shiraz. Der Mietvertrag gilt nur für ein Jahr.“
„Und dann?“, will ich wissen.
„Dann wird es fast immer teurer.“
„Viel teurer“, präzisiert Firoozeh. „Manchmal sogar doppelt so viel wie vorher. Und das muss dann wieder im Voraus bezahlt werden.“
Reinhard und ich gucken ungläubig. „Das gibt es doch gar nicht“, empöre ich mich. „Was machen die Leute denn, wenn sie das nicht bezahlen können?“
Rasool zuckt mit den Schultern. „Manchmal muss man sich erstmal einen Container mieten, in dem man seine Möbel einlagert, und dann eine Alternative suchen. Manchmal muss man sich danach verkleinern oder in eine schlechtere Gegend ziehen. Besonders in Teheran ist das sehr schwierig, weil die Mieten sehr, sehr teuer sind.“
Allmählich bekommen wir eine Ahnung, warum Geld bei der Partnerwahl eine wichtige Rolle spielt.
„Du darfst jetzt nicht schlecht von den iranischen Frauen denken“, sagt Firoozeh. „Es geht oft nicht um Luxus. Nur darum, ein normales, gutes und unabhängiges Leben zu führen. Deshalb prüfen viele Frauen die Umstände vorher ab. Sie möchten sich nicht überstürzt verlieben, um dann vielleicht arm und unglücklich zu sein.“
Ein wenig fühle ich mich ertappt. Egal, wie viel man sieht oder hört, trotzdem neigt man dazu, (vor)schnelle Urteile zu fällen. Wie freiherzig hätte ich mich wohl in einer solchen Situation entschieden? Ich erinnere mich an unsere Zeit im Norden Irans, wo wir einige Tage in einem sehr kleinen und schlichten Haus bei einer kleinen Bauernfamilie verbracht haben. Der Boden aus gestampftem Lehm, statt eines Badezimmers ein einfacher Verschlag mit Betonboden und einem Wasserrohr, das aus der Wand ragte. Kein Auto, keine Reisen, keine kulturellen Veranstaltungen. Am Tag arbeiten, in der Nacht schlafen. Ein Leben lang. Würde ich mir ein solches Leben aussuchen, wenn ich keine Möglichkeit sähe, aus eigener Kraft meine Träume zu verwirklichen?
Würdet ihr?
Doch Vorurteile gibt es auf beiden Seiten. In Deutschland denken offenbar immer noch viele, dass der Iran ein freudloses Land ist, in dem Frauen rechtelos sind, komplett in Schwarz gehüllt sein müssen und wo es von muslimischen Selbstmordattentätern nur so wimmelt. Zahlreiche Bilder in den Medien untermalen dieses Bild. Auch Reinhard und ich waren anfangs sehr unsicher, was die Strenge der Sittenregeln betrifft. Öffentlich Händchenhalten? Besser nicht! Küssen? Ruft die Sittenpolizei auf den Plan! Alles Tinnef, wie wir später feststellten. Aber wie sieht es umgekehrt aus? Für größte Erheiterung sorgen verschiedene Aussagen, die unsere Freunde im Iran über Deutsche und Deutschland gehört haben.
Rasool erzählt uns, wie es dazu kam, dass wir eine Einladung zum Couchsurfing bekamen. Beide hatten den Wunsch, Menschen aus anderen Ländern kennenzulernen, ihren Horizont zu erweitern. Aber ausgerechnet Deutsche? Die sind – so hört man – kaltherzig, humorlos und steif. Hättet ihr so jemanden gern zu Gast? Rasool arbeitete an diesem Tag. Während der Reparatur eines Geldautomaten, der einen Reboot benötigte, hatte er etwas Zeit. Der WhatsApp-Dienst war an diesem Tag nicht verfügbar. Also schaute er in die Couchsurfing-App. Ganz oben in der Ansicht fand er den von mir eingestellten Reiseplan. Ein Blick in mein Profil. „Scheint ganz nett zu sein“, dachte er und lud uns ein.
Firoozeh erfuhr erst davon, als ich zu ihrer beider Überraschung recht schnell zusagte. Sie war zunächst nicht sehr begeistert. „Warum nicht jemand aus Kanada oder Australien, Rasool? Warum Deutschland?“ Aber Rasool zeigte ihr Profil und Fotos. Am Ende war sie einverstanden, wenn auch skeptisch. Was sich aus diesem ersten Tag und dieser ersten Übernachtung ergeben würde, hätte damals niemand ahnen können. (Zur Erinnerung: Shiraz – die Geschichte einer Freundschaft – (Mit) Rucksack und Rentner um die Welt)
Nun aber zurück zu den Dingen, die Firoozeh und Rasool über Deutschland gehört haben (was nicht bedeutet, dass sie das geglaubt haben!!!)
Wusstet ihr, warum die Deutschen so oft Kerzen anzünden? Klarer Fall: Der Strom ist bei uns so teuer, dass es günstiger ist, Kerzen anzuzünden. Die meisten Deutschen haben immer nur eine Lampe im ganzen Haus an. Aus dem gleichen Grund müssen wir im Winter immer frieren. Das Heizen ist nämlich teuer wie nix (na gut, ein Körnchen Wahrheit steckt wohl in jedem Vorurteil ;-)).
Die meisten Deutschen leben aus den vorgenannten Gründen auf sehr kleinem Wohnraum. Es ist keine Seltenheit, dass 4-5 Leute sich eine 50qm Wohnung teilen. Eine größere Wohnung müsste ja auch mehr beheizt werden. Auch die Vitaminzufuhr muss wohl bedacht sein. In Deutschland teilen sich in der Regel 2 – 3 Personen eine einzelne Orange …
Könnt ihr euch vorstellen, wie viel Spaß wir in solchen Nächten bei unseren Gesprächen haben? Selbstverständlich ist das nicht die vorherrschende Meinung der Iraner über uns Deutsche. Sonst wären wir während unserer Reise nicht überall so offen und herzlich empfangen worden. Aber es zeigt doch eines: Hier wie dort gibt es falsche Vorstellungen und Ressentiments. Wir sollten beginnen, solche Dinge zu verlernen.
Reinhard
Neben den langen Diskussionsnächten gibt es immer wieder viel zu lachen. Tanzen ist im Iran offenbar inoffizieller Nationalsport. Es vergeht kein Tag ohne Musik und Tanz. Besonders lustig ist für mich eine große Gesangs- und Tanzshow, die unsere Gastgeber spontan für uns aufführen. Firoozeh parodiert die Tänze iranischer, türkischer und kurdischer Frauen und Männer mit übertriebenen Bewegungen und hinreißenden Grimassen. Als musikalische Untermalung dient dabei das Lied „Was geht ab“ von den Atzen. DIE ATZEN (FRAUENARZT & MANNY MARC) – DAS GEHT AB ( Official Video ) – YouTube
Wir biegen uns vor Lachen. Als Rasool dann noch sein komödiantisches Blödeltalent vorführt, ersticken wir fast. So etwas fehlt definitiv noch in der deutschen Comedy-Branche! Wer weiß, welche Chancen sich da noch auftun …
Gern würden wir die vollen Videos mit euch teilen, aber darauf steht die Todesstrafe.
Hymne unseres Ankara-Aufenthalts wird „Bella Ciao“ – in der italienischen Ursprungsversion des Textes. Unsere Freunde kennen den Text aus der Netflix-Serie „Haus des Geldes“. In zwei Sprachen singen wir den Refrain der letzten letzten Strophe: „Diese Blume, so wird man sagen … ist die Blume des Partisanen, der für unsere Freiheit starb.“ Fantastisch.
Eines Nachmittags strolchen wir durch das nahe Geschäfts- und Ausgehviertel. Von einer Eisdiele aus beobachten wir einen kleinen Skandal. Ein in Hotpants und bauchfreiem Top bekleideter Mann läuft über die Kreuzung – er trägt eine blonde Langhaarperücke und sein Make-up könnte zur Rocky Horror Picture-Show passen. Er wird verfolgt von einem zornigen Alten (na ja, einem Typen in meinem Alter), der ihn beschimpft, bespuckt und tritt. Polizei taucht auf.
Eine wachsende Menschenmenge betrachtet das Spektakel – teils belustigt, teils empört. „Das könnte brenzlig werden“, sagt Chrissie besorgt. Sie steckt ihr Handy so in eine Brusttasche ihrer Hemdbluse, dass sie das Folgende filmen kann. Man kennt ja die Berichte darüber, wie muslimische Staatsdiener meist mit Schwulen umgehen. Sympathisch ist nicht das erste Wort der Wahl. (Na ja, ob der Mann im Top wirklich homosexuell ist, können wir nicht wissen!)
Ich befürchte das Schlimmste, als die Beamten zu den Streitenden eilen.
Doch es kommt anders. Die Polizisten reagieren nicht unbedingt so engagiert wie gewünscht. Der Perückenmann brüllt einiges in Richtung seines Widersachers und steckt im Gegenzug noch einen Tritt ein. Einmal stürzt er nach einem Schlag oder Stoß zu Boden. Der Prügel-Austeilende wird sanft nach hinten geschoben. Mein Gerechtigkeitssinn schreit danach, dass der Alte stattdessen in Handschellen abgeführt wird. Die Polizisten reagieren zögerlich, aber dennoch deeskalierend. Ein Urteil fällt schwer, da wir weder verstehen, worum es geht, noch die Vorgeschichte kennen. Einige Beamte versuchen mit sanftem Druck, den leicht Bekleideten in ihren Streifenwagen zu geleiten, zwei andere isolieren den zornigen Greis. Wir halten den Atem an. Wird der Blonde nun abgeführt? Vielleicht sogar ins Gefängnis gebracht? Nein. Zum Glück nicht. Die Spannung löst sich wenig später auf. Als der Alte verschwunden ist, darf der Angegriffene wieder auf seiner Bank in der City-Passage Platz nehmen. Rätselhaft. Die türkische Polizei hat viele Gesichter. Im nachfolgenden Link könnt ihr es euch selbst anschauen und ein Urteil bilden. Fall jemand von euch Türkisch spricht, würden wir uns über einen Kommentar freuen, der Aufschluss über den Inhalt des Streits gibt.
Wir ziehen ein paar Ecken weiter und landen in einem gut besuchten Open-Air-Lokal mit Live-Musik.
Ein smarter Manager schiebt zwei Tische zusammen, um uns platzieren zu können. Wir landen direkt vor der Band. Sie bietet, würde ich es mit meinem dünnen Musikverständnis sagen, eine Mischung aus Rock und Nahost-Folklore. Am Nebentisch sitzen zwei Mädels, die jeden Songs begeistert mitsingen. Beide sind nicht gerade unterernährt, aber auf Feiertag mit einem Hauch Erotik gestylt: Eine Schulter haben sie freigelegt und suchen mit sehnsüchtigen Blick die Augen des attraktiven Frontmanns. Chrissie kommentiert meinen Kommentar nach einem Check der Lage: „Keine Chance. Der guckt nur auf Firoozeh.“
Soll er ruhig, denke ich. Bei ihr hat selbst dieser Womanizer keine Chance.
Die erste Woche in Ankara neigt sich dem Ende zu. Auch wenn Europa weit weg ist, beginnt der Samstag mit einem Blick auf den Start der 2. Bundesliga. Schalke hat das Auftaktspiel gegen den HSV verloren. Zu Hause! Meine blau-weißen Facebookfreunde reagieren beinahe depressiv. Langsam tun sie mir leid und ich spare mir jeden Kommentar, der wie Schadenfreude klingen könnte. Man weiß ja nie, wie der BVB in zwei Wochen starten wird.
Echtes Mitleid hat unser Freund Rasool verdient. Die Woche über hat er auf eine Mail von der Uni Duisburg-Essen gewartet. Dass sie ihm nicht sofort eine Absage geschickt haben, lässt ein wenig Hoffnung auf eine Bestätigung seiner Bewerbung aufkommen. Doch die Uhr tickt. Eine Entscheidung muss bald getroffen werden. Bei einer Absage aus Essen würde er sein Masterstudium weit weg von Bochum beginnen müssen. Wir sind gespannt.
Drückt uns die Daumen, dass es klappt!