Alte und neue Freundschaften
Chrissie
Die Zeit in Ankara folgt keiner Chronologie. Wir schlafen, kochen, essen und reden. Leben in den Tag hinein, fernab jeder Abenteuerlust. Wir spazieren, singen, wir tanzen, lachen und lernen uns noch besser kennen.
Fast jeden Morgen frühstücken wir im Park. [Unbedingt mal die köstlichen Simit probieren, die man überall in Ankara oder auch Istanbul kaufen kann Simit – Rezept für Sesamringe | Türkische Rezepte (tuerkisch-rezepte.de] Danach gibt es für drei von uns etwas Sport und für einen von uns Käffchen oder Tee im Schatten der Bäume. Für uns ein unerwartet schönes Lebensgefühl.
Als Stöpsel, erinnere ich mich, war ich nach der Schule immer draußen. In den Ferien sogar von morgens bis abends. Es war niemals langweilig. Immer gab es Kinder, mit denen ich spielen konnte. Schlechtes Wetter kannten wir nicht. Selbst im strömenden Regen waren wir unterwegs, haben im Sandkasten Schlammschlachten veranstaltet, Tröpfelburgen gebaut oder in selbstgebauten Buden Unterschlupf gesucht. Ich habe Wind und Freiheit genossen.
So auch jetzt in Ankara. Mit Firoozeh und Rasool kommt dieses Stück meiner Kindheit zurück. Aber jetzt braucht es kein besonderes Programm mehr, um das Freisein zu genießen. Es reicht, wenn man die Zeit mit den richtigen Leuten verbringt.
Warum, so frage ich mich, sitzen wir in Deutschland nicht genauso oft mit Freunden in Parks oder wenigstens auf Bänken unter Bäumen? Haben wir wirklich alle so wenig Zeit für gute Gespräche und fürs Freisein?
Während Firoozeh und Rasool auf der Wiese noch ihre Glieder recken, strecken und in alle Winkel verdrehen, besuche ich Reinhard an seinem Schattenplätzchen am Kiosk.
Er tippt gerade fleißig am neuen Blogartikel und guckt zufrieden mit sich und der Welt. Woran er wohl gerade schreibst?
Reinhard
Firoozehs und Rasools Lieblingspark ist längst zu meinem Park geworden. Viel Grün, gepflegte Wege, Leute, die den spärlichen Müll einsammeln, der Kiosk, an dem man wahlweise in der Sonne oder im Schatten sitzen kann und wo Tee, Kaffee oder kleinen Häppchen an den Tisch gebracht werden. Kein Rummel, kein Geschrei – aber viele romantische Momente: Aus dem nahen Heiratspalast kommen Brautpaare herüber und lassen sich auf einer gewölbten Holzbrücke mit viel Aufwand fotografieren, obwohl manche Damen mit Pfennigabsätzen Probleme haben, über die glatten Planken unfallfrei wieder nach unten zu kommen.
Mittags ist die Hitze so groß, dass wir „nach Hause“ ziehen und ein Schläfchen einlegen – während die meisten Berufstätigen tapfer durchhalten müssen. Das wahre Leben beginnt wie im Iran erst, wenn es gegen Abend kühler wird. Dann strömen die Leute in die Gastroviertel – oder wie wir zurück in den Park.
Neben uns rückt ein älteres Ehepaar zwei Tische zusammen und entfaltet eine Decke. Aus einem Korb zaubern unsere Nachbarn Brot, Teller, Bestecke, Aufstrich und Früchte hervor. Dann kommen Gläser und Getränke hinzu. Bald ist das Abendessen fertig – und es sitzen acht oder neun Menschen aus drei Generationen zusammen. Die älteren Frauen tragen noch ganz konventionell korrekte Kopftücher, die jüngeren zeigen ihr Haar offen und bevorzugen luftigere Kleidung. Ein Bild, wie wir es im Iran nicht sehen konnten – aber so weit ist die Türkei auf Erdogan-Kurs zu einem komplett islamisch geprägten Staat noch nicht. Kaum vorstellbar, dass Millionen Frauen und Mädchen ihre Schönheit auf Kommando verbergen würden.
Wir sind etwas spärlicher vorbereitet. Brot, ein paar Früchte und Bier. Niemand nimmt an unseren Efes-Flaschen Anstoß. Und wir reden Stunden lang: Über unsere Familien, unsere Freunde, über unseren Alltag in Deutschland, über die Deutschkurse der beiden, über ihre Versuche, an deutschen Universitäten eine Zulassung zum Studium zu bekommen – die wichtigste Voraussetzung für den Erhalt eines Visums.
Chrissie
Spätnachts telefonieren wir wieder mit dem Iran. Firoozehs Mutter Siemin hat begonnen, etwas Deutsch zu lernen. „Guten Tag“, begrüßt sie uns. „Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“ Dabei ein schalkhaftes Lächeln in den Augen. Zum Verlieben. Im Iran habe ich sie meistens still und eher ernsthaft erlebt. Aber in den Videocalls mit ihrer Tochter sehe ich sie strahlen. Schönheit ist keine Frage des Alters.
Siemins Wunsch ist es, erklärt mir meine iranische Wahlschwester, dass sie sich eines Tages mit uns ohne Übersetzung durch andere unterhalten kann. Und ich verspreche ihr, dass wir uns irgendwo auf halbem Weg treffen werden. (Ich muss nur noch mein Gehirn davon überzeugen, dass es mehr kann als nur ein persisches Schimpfwörterbuch abzuspeichern. 😉)
Als Reinhard und ich gegen 01:30 Uhr im Bett liegen, kreisen meine Gedanken. Ich denke an die bevorstehende Immigration, an die Hürden, die noch zu nehmen sind und dann an den Blog, an unsere Leser und daran, wie man beschreiben soll, was mit uns seitdem passiert ist.
„Ist das überhaupt noch ein Reiseblog?“, frage ich Reinhard.
„Wie meinst du das?“, will er wissen und dreht sich um zu meiner Seite.
„Naja, das Reisen spielt aktuell kaum noch eine Rolle. Passt das hier überhaupt noch zu unserer Webseite?“
Reinhard denkt eine Sekunde nach. Dann sagt er: „Eine Reise muss ja nicht unbedingt was mit Fahren oder Fliegen zu tun haben.“
Hmm, denke ich. Da ist was dran. Unsere Rucksack-und-Rentner-Reise konnte auf keinen Fall mit unserer Heimkehr nach Deutschland enden. Firoozeh und Rasool gehören längst zu uns.
„Weißt du wie der Blog enden muss?“
„Nö.“
„Aber ich. Erst dann, wenn wir die beiden am Flughafen abholen können. Vorher nicht.“
Reinhard küsst mich.
Reinhard
Am dritten oder vierten Tag treffen wir Freunde von „unseren“ Iranern. Ensaf und Humam, zwei junge Geschwister aus Syrien. Firoozeh hatte uns schon am zweiten Tag gefragt, ob wir Lust hätten, die beiden zu treffen. „Sie sind wirklich immer sehr nett und hilfreich“, sagt sie.
Aus politischen Gründen können sie derzeit nicht zurück in ihr Heimatland, erfahren wir. Die Eltern und ein Onkel von ihnen wohnen schon länger in Deutschland, was auch ihr Ziel ist. Kennengelernt haben sich die Vier witzigerweise am Goethe-Institut. Während Firoozeh und Ensaf ihre B1-Prüfung ablegten, standen Rasool und Humam wartend vor der Tür und haben kommuniziert. Mit Händen und Füßen und mit dem wenigen Deutsch, das die beiden beherrschten. Irgendwie hat es geklappt und alle waren sich auf Anhieb sympathisch.
Wir treffen uns zunächst vor einem Geschäft in der City.
Ich betrachte die beiden neugierig. Die beiden Jugendlichen sind meiner Meinung nach chic gekleidet, aber offenbar streng muslimisch erzogen. Ensaf trägt ein hellblaues Kopftuch zu Bluse und Leggings. Sie schüttelt Chrissie freundlich die Hand, vermeidet aber jede Berührung mit mir. Humam begrüßt uns beide mit freundlichem Respekt. Wir haben den stillen Verdacht, dass er in der Fremde ein wenig auf die Tugend seiner älteren Schwester achten soll.
Schüchtern ist die junge Frau aber nicht. Bruder und Schwester leben schon länger in der Türkei und Ensaf hat nicht nur die Stadt kennengelernt, sondern zugleich auch gut Deutsch trainiert. So hat sie gleich ein halbes Dutzend Vorschläge, die sie uns in unserer Sprache präsentiert, was wir unternehmen könnten. Schließlich klettern wir alle in einen gut besetzen Linienbus, der zehn oder 20 Minuten lang einen steilen Berg hinauf keucht. Wegen eines der vielen Feiertage in dieser Woche ist die Fahrt kostenlos.
Wir landen vor einer dieser luxuriösen Malls, in der hundert verschiedene Firmen mit kleinen Shops oder Cafés vertreten sind – gemeinsame Personalräte gibt es dort nicht mehr und man kann die Angestellten nach Geldeslust mit vielen Überstunden und schlechtem Lohn ausbeuten. Gleiches passiert ja gerade bei uns in Deutschland: Karstadt, Kaufhof und Hertie geben einen Laden nach dem anderen auf und sind die lästigen Gewerkschaften und Personalräte los. In diesen Minibetrieben gibt es kein Mitbestimmungsrecht.
Was sollen wir hier?, frage ich mich. Shopping etwa? Bevor wir in den Aufzug steigen dürfen, müssen wir unsere HES-Codes registrieren. Diese dienen in der Türkei zur Nachfverfolgung der Infektionsketten. Ohne diesen Code ist es gar nicht möglich, einzureisen.
Es geht nach ganz oben innerhalb dieses Prachtbaus. Auf einer Terrasse finden wir Platz für sechs Leute, holen Kaffee und Pommes. So ganz gefällt mir dieser Ausflug noch immer nicht. Doch der Aschenbecher auf dem Tisch stimmt mich gleich eine Spur versöhnlicher. Die Gespräche mit den beiden jungen Menschen aus Syrien gehen noch nicht sehr tief – wir tasten uns erst aneinander heran. Wir merken auf jeden Fall, dass Humam deutlich schlechter Deutsch spricht als die Schwester. Er hat sich zunächst auf das Türkische konzentriert und arbeitet zehn bis zwölf Stunden täglich in einem Supermarkt. Da bleiben am Abend nicht mehr viel Zeit und Energie zum Lernen.
Chrissie
Was Reinhard vergessen hat, zu erwähnen, ist der Grund unseres Ausflugs. An der Spitze des Aussichtsturmes hat man einen fantastischen Ausblick über ganz Ankara.
Um ehrlich zu sein, bin aber auch ich froh, als wir den Plan fassen heimzukehren. Die Hektik und Akustik im Einkaufszentrum und die Kälte des Baus gefallen mir nicht allzu gut. Die Sonne verschwindet gerade am Horizont und es wird merklich kühler. „Der alte Mann in T-Shirt und Shorts beginnt zu frieren“, sagt Reinhard. Ich auch. Kurze Diskussion, wie es weitergeht. Was für eine Frage! Rasool und Firoozeh laden die syrischen Geschwister zu sich nach Hause ein. Gastfreundschaft ist auch in der Fremde das höchste Gut.
Am Fuße des Turms machen wir noch schnell ein paar Erinnerungsfotos.
Dann geht es ein Stück durch den angrenzenden Park. Abrupt bleibe ich stehen und lache.
„Was soll das denn darstellen?“, frage ich in die Runde, während ich mit ausgestrecktem Arm auf eine Steinskulptur deute.
Reinhard bemerkt trocken: „Sicher nicht das, wonach es aussieht.“
Habt ihr vielleicht Vorschlage, was die Intention des Künstlers war? 😉
Reinhard
Als wir in der Wohnung ankommen, erfahren wir, dass Ensaf und Humam nicht mehr viel Zeit haben. Es ist spät geworden und die beiden wohnen weit außerhalb der Stadt in einem Gebäude für Flüchtlinge. Der letzte Bus soll in einer knappen Stunde fahren. Kein Problem für Rasool. In knapp 20 Minuten bereitet er ein fantastisches Dinner vor. Mit diesen Zauberkräften, denke ich, könnte er in Deutschland glatt ein iranisches Restaurant aufmachen.
Chrissie
Der Abend ist sehr angenehm. Ich finde spannend, was Ensaf erzählt und stelle viele Fragen darüber, wie sie aufgewachsen ist und wie es in Syrien war. Sie ist in einem syrischen Dorf aufgewachsen und das einzige Mädchen in einer Familie mit zehn Kindern. „Meine Mutter ist erst 42“, sagt sie. Aber du siehst zehn Jahre jünger aus als sie.“
„Wirklich?“, will ich wissen. Ich habe da so meine Zweifel, denn ein Blick in den Spiegel verrät mir meist, dass die Werbefirmen sich wohl andere Gesichtsmodels für ihr Verjüngungsserum aussuchen würden. Im Iran hatte ich reichlich Gelegenheit, „Taroof“ kennenzulernen. Das ist der Begriff für eine nicht immer ernst gemeinte übertriebene Höflichkeit und Freundlichkeit, die einem meist nur ein gutes Gefühl vermitteln soll). Gibt es in Syrien etwas Ähnliches?
Nein, Ensaf erklärt mir, dass die Frauen den Haushalt komplett allein schmeißen. Mit zehn Kindern schon reichlich Arbeit. Davon abgesehen, dass das Kinderbekommen ebenfalls Schwerstarbeit für den Körper bedeutet. Dazu kommt, dass genau wie im Iran Gastfreundlichkeit sehr, sehr wichtig ist. Wenn man Besuch bekommt – und das passiert häufig – stellt man nicht einfach einen Topf Suppe auf den Tisch oder Boden. Nein, dann wird den ganzen Tag gekocht, gerührt und gebrutzelt.
„Der Körper altert schneller“, sagt Ensaf. „In den letzten Jahren habe ich fast alles allein zu Hause gemacht, weil meine Mutter es nicht mehr konnte.“
Man kann ihr ansehen, dass sie froh ist, dieses Schicksal nicht teilen zu müssen. Und wie so oft während unserer Reisen wird mir bewusst, wie gut es uns geht und welch hohes Gut die Freiheit ist, Entscheidungen treffen zu können.
Als unsere neuen Bekannten aufbrechen, wissen wir, dass wir uns wiedersehen wollen und werden.