Glückliche Tage in Ankara
Chrissie
Glückstaumel. Anders kann ich die ersten Stunden nach unserem Wiedersehen nicht nennen. Wir grinsen und lachen, ohne damit aufhören zu können. Rasool und Firoozeh schnappen sich einen Teil unseres Gepäcks und gehen leichtfüßig voraus. Der Kurtulus Park ist nur wenige Hundert Meter entfernt. Wir machen Halt an einem kleinen Kiosk, wo im Schatten der Bäume ein paar Tische und Bänke zum Sitzen einladen. Vor uns plätscherndes Wasser, Enten, eine hübsche kleine Holzbrücke. Wiedersehensidyll. Es regnet 1000 Fragen in unseren Köpfen. Es ist eben doch was ganz anderes, wenn man sich persönlich sieht. All die Zoom-Konferenzen der vergangenen Monate sind nur ein Kuchenkrümel im Vergleich zur Festtagstorte unseres Wiedersehens. Irgendwie können wir alle noch nicht begreifen, dass dieses Treffen real ist. Immer wieder schauen wir fasziniert in die Gesichter der anderen, als müssten wir uns davon überzeugen, dass sie keine Visionen sind. Rasool schüttelt immer wieder ungläubig lächelnd den Kopf und bringt es auf den Punkt: „Euch hier zu sehen ist so viel anders als ein Video.“
Recht hat er.
Beide haben ordentlich Gewicht verloren in den letzten zwei Jahren. Firoozeh wirkt in ihrem Blümchenkleid auf mich wie ein zerbrechliches Vögelchen. „Ist das wegen des vielen Stresses?“, will ich wissen.
„Ein bisschen“, sagt sie. „Ich habe 5 Kilogramm weniger. Aber ich glaube, das ist, weil wir kein Auto mehr haben. Wir müssen immer laufen.“
Rasool lacht und klopft sich stolz auf den Bauch. „Yes! 8 Kilogramm less.“
Reinhard betrachtet betreten sein Bäuchlein, das in den letzten Monaten wieder an Volumen gewonnen hat. Dann bestellt er lieber noch einen Kaffee, anstatt das Thema zu vertiefen. Ist mir auch ganz lieb. Der eigene Hosenbund lässt erahnen, dass. es kein „Wiegefest“ gäbe. Mehrere Kaffees und Wässerchen später haben wir nicht ansatzweise mangelnden Gesprächsstoff zu beklagen. Verdammte Hacke! Wir haben zwei Jahre aufzuholen. Dabei spielt es keine Rolle, dass wir regelmäßig getextet und telefoniert haben. Gefühle passen eben nicht gut in ein Videoformat. Reinhard ist voll in seinem Element und spricht mit beiden Deutsch. Rasool überrascht mich. Er hat erst vor wenigen Monaten mit dem Lernen begonnen; ist offiziell erst auf A1-Level. Aber er versteht 80% von allem, was wir sagen. Nur gelegentlich muss Firoozeh etwas übersetzen. Allerdings braucht er beim Sprechen noch Übung. Die soll er in den nächsten Tagen reichlich bekommen. Bis dahin benutzen wir alle eine lustige Mischung aus Englisch und Deutsch 😉
Gegen Mittag sagt Firoozeh: „Ich habe Essen vorbereitet.“ Mein Magen knurrt wie auf Kommando. Immerhin weiß ich, wie gut die persischen Kochkünste der beiden sind. Außerdem haben unsere lieben Iraner bei ihren Familien vegane Rezepte gesammelt.
Nicht nur deshalb räumen wir gern unseren Platz, um die letzten 5 Minuten Fußweg bis zur Wohnung hinter uns zu bringen. In unseren Taschen verbergen sich einige Geschenke von uns und unseren Nachbarsfreunden. Ich freue mich schon wie ein Kind darauf, dass die beiden endlich auspacken können. Doch es ist wie an einem Heiligen Abend: Erst wird gegessen. Helfen dürfen wir nicht. „Seid komfortabel“, ordnet Firoozeh in ihrem charmanten Deutsch an und drückt mich zum x-ten Mal an diesem Tag. an ihre Brust. Ich grinse wieder, drücke zurück und nicke. Denn ganz unrecht hat sie nicht. Nach der Höllenanfahrt der letzte Tage und dem wenigen Schlaf ruhen wir uns gern ein wenig aus. Besonders mein Rücken ist dankbar, wieder in die Horizontale wechseln zu dürfen. An die Rückfahrt will ich lieber noch gar nicht denken.
Wie erwartet schmeckt es göttlich. Handgemachte Falafel für mich. Hähnchen für die anderen. Dazu Salat und frisch gebackenes Brot von Rasool – ein Luxus, den wir von nun an täglich genießen dürfen.
Ich habe zwischendurch unsere Geschenke drapiert. X-Mas in Ankara.
Nach wenigen Minuten sind wir pappsatt. Es folgt die Bescherung. Nicht nur ich, auch Firoozeh und Rasool haben sich eine Portion Kindlichkeit bewahrt. Sie lachen, sie tanzen, sie klatschen in die Hände. Reinhards Augen glänzen wie schon lange nicht mehr. Und ich kriege fast Muskelkater in den Wangen. So viel muss ich grinsen, während die beiden ihre Shirts anprobieren, eine lustige Modenschau mit den mitgebrachten Shirts vorführen und später ausgiebig ein Filmchen für die Familie im Iran drehen.
Für besondere Begeisterung sorgen eigens kreierte Kühlschrankmagnete. Wer schon immer mal wissen wollte, wie Reinhard als Putte aussieht, sollte jetzt das Video starten 😉
Doch auch wir werden reichlich beschenkt. Ich jauchze, als ich den riesigen Beutel getrocknete Orangenblüten auspacke. Sofort erinnere ich mich an unsere erste Nacht in Shiraz. Unser Zimmer war erfüllt von diesem Duft, denn dort trocknete eine Berg aus diesen Blüten. Süß wie frische Orangen. Ich liebe es mehr als jedes Parfüm und 5 Blüten machen aus jedem Tee einen Genuss. Weitere geheimnisvolle Beutel wechseln die Besitzer. Iranische Chiasamen und ein braunes aromatisches Pulver für gesunde Cocktails, blaue Blüten zum Einfärben von Getränken, weitere andere für aromatischen Tee und ein riesiges Glas roten Safrans. Am besten aber gefallen mir die handbemalten Federn. In liebevoller Kleinarbeit hat Firoozeh sie für uns in Kunstwerke verwandelt.
Die Nacht wird lang und fröhlich. Eigentlich sind wir müde wie die Hunde. Aber Scheiß was auf Schlaf! Reinhard und ich teilen ein Motto: Schlafen können wir immer noch, wenn wir tot sind.
Reinhard
Beim Erwachen großes Erstaunen. Es ist heller Tag. Aber wo bin ich? Ich liege in einem bescheidenen Raum. Schränke, abgestellte Koffer, unsere Rucksäcke, am Fenstergriff hängen die Reisehandtücher aus Bambus.
Wo ist Chrissie? Durch die halb geöffnete Tür dringen die vertrauten Geräusche herüber, die ich von unseren eigenen Frühstücksvorbereitungen her kenne. Wir sind …
Ein Muezzin hilft meinem Gedächtnis auf die Sprünge. Mit einem gewaltigen Lautsprecher schickt der fromme Mann seinen Vormittagsgruß an Allah durch die Straßen. Für einen Ungläubigen wie mich hört sich das so an, als sänge Orpheus sein Klagelied, nachdem er beim Besuch der Unterwelt zum zweiten Mal seine Eurydike verloren hat. Sehr, sehr schmerzhaft und verzweifelt.
Ankara also! Das bescheiden möblierte Übergangsquartier unserer iranischen Freunde hat ein Extrazimmer nur für uns. Schon bei der Wohnungsauswahl hatten sie an einen Besuch durch uns gedacht! Und Chrissie dürfte aktuell den beiden bei der Arbeit helfen.
Mühsam rappele ich mich hoch. Der Dienstagabend ist verdammt lang gewesen. Wir haben bis in die Nacht in dem schönen Park gegenüber dem Hotel gesessen. Da alle Tischgruppen schon belegt waren, stellten wir zwei Bänke einander gegenüber, um nicht wie die Hühner auf der Stange sitzen zu müssen. Auge in Auge redet es sich besser, vor allem dann, wenn ein paar Fläschchen „Efes“ die Kehlen feucht halten. Irgendwann tauchte der Parksheriff auf. Verdammt! Firoozeh hatte doch vorher gesagt, es sei verboten, in der Öffentlichkeit Alkohol zu trinken. Warum haben wir nicht auf sie gehört? Was droht jetzt? Geldstrafe? Knast?
Nichts von alledem. Fünf Wörter und ein Fingerschnippen machen klar, was unser Vergehen war. Bänke verschieben ist nicht erlaubt. Zum Bier kein Wort. Puh, zum Glück ist Ankara nicht der Iran. Und der Schlafmangel hing uns sowieso schon in den Gliedern.
Noch im Schlafanzug versammeln wir uns am Esstisch, der in der verbauten Wohnung nur für drei Plätze bietet – Rasool nimmt nebenan auf dem Sessel Platz. Wir knabbern am Brot, trinken Kaffee oder Saft, räumen ab – und ziehen wieder in „unseren“ Park. Ich liebe ihn schon jetzt. Viel Grün, gepflegte Wege, Sport- und Spielgeräte für Kinder und Erwachsene, darunter eine Tartanbahn für Sprinter und Mittelstreckler. Kein Rummel, kein Geschrei – Erholung. Und dazu Kaffee und Tee für umgerechnet 50 Cent die Tasse. Bei diesen Preisen schaffe es nicht einmal ich, meine Rente zu versaufen.
Als die drei anderen sich der Leibesertüchtigung widmen, sitze ich neben dem Kiosk, trinke gemütlich ein Heißgebräu und bewache unsere Taschen. Das einzige, was ich bedaure ist: Ich habe mein iPad nicht mitgebracht. Der Park ist ein idealer Platz, um weiter an unserem Blog zu tippen. Zur Anregung der Fantasie kann man gelegentlich ein Rauchopfer bringen – und Leute beobachten, wenn einem trotz aller Drogen noch immer keine passende Formulierung einfällt.
Statt für uns und euch zu schreiben, denke ich über die Situation unserer Freunde nach. Grundsätzlich geht es Firoozeh und Rasool, zumindest für Außenstehende, auch nicht schlecht. Für ihre Deutsch-Hausaufgaben können sie den richtigen Zeitpunkt selbst wählen. Aber da ist auch noch der bürokratische Kram, den sie für die Unis und das Visum abarbeiten müssen. Rasool wartet noch immer auf die positive Antwort einer Ruhrgebietshochschule, um sein Masterstudium in der Nähe seiner Frau absolvieren zu können. Mich würde diese Warterei verrückt machen. Dazu kommt noch ein Stück Einsamkeit. Für Iraner sind häufige Zusammenkünfte im großen Kreis eine alltägliche Angelegenheit. Da wundert es nicht, dass sich in der Ferne gelegentlich der Blues breitmacht.
Chrissie
Nach dem Sport sind wir völlig erledigt. Aber ich brauche dringend ein paar Sachen aus dem großen Migros Supermarkt in der Nähe des Parks. Ohne Hafermilch und Hummus fehlt mir was. Und wenn man schon mal dort ist, findet man noch andere nette „Kleinigkeiten“.
Reinhard
Am frühen Abend – wir sind nach dem Mittagessen und einem Schläfchen wieder zurückgekehrt – kommen Familien in den Park. Nebenan rückt ein älteres Ehepaar zwei Tische zusammen, säubert gemeinsam mit einer jüngeren Frau die Platte und entfaltet eine Decke. Aus einem Korb zaubern unsere Nachbarn Brot, Teller, Bestecke, Aufstrich und Früchte hervor. Dann kommen Gläser und Getränke hinzu. Bald ist das Abendessen fertig – und es sitzen acht oder neun Menschen aus drei Generationen
beisammen.
Die älteren Frauen tragen noch ganz konventionell korrekte Kopftücher, die jüngeren zeigen ihr Haar offen und bevorzugen luftigere Kleider. Ein Bild, wie wir es im Iran nicht sehen konnten – aber so weit ist die Türkei auf Erdogan Kurs zu einem komplett islamisch geprägten Staat noch nicht. Kaum vorstellbar, dass Millionen Frauen und Mädchen ihre Schönheit auf Kommando verbergen würden. Aber die Mullahs im Iran haben das ja nach ihrer „Revolution“ auch Schritt für Schritt durchgesetzt – und das unerbittlich.
Wir sind etwas spärlicher vorbereitet. Brot, ein paar Früchte und Bier. Niemand nimmt an unseren Bierdosen Anstoß. Und wir reden stundenlang über die Lage und Zukunftsoptionen der beiden. Ob wir es wirklich hinkriegen, in diesem Jahr Nachbarn zu werden? So viele Unabwägbarkeiten …
Rund um Mitternacht gibt es zu Hause Videokonferenzen mit den beiden iranischen Müttern, die ihre Kinder vermissen, aber ihren Entschluss, in Deutschland zu studieren nicht mehr kritisieren. Jetzt sorgen sie sich, ob alles klappt. Von unseren Bemühungen, Sohn und Tochter den Start nach und in Deutschland zu erleichtern, haben sie schon viel gehört. Dass wir zur Unterstützung der beiden extra in die türkische Hauptstadt gekommen sind, beeindruckt sie sehr. Chrissie schießt natürlich den kommunikativen Vogel ab: Jeden Abend beherrscht sie ein, zwei persische Redewendungen mehr.
Chrissie
Wenn Reinhard wüsste …
90% meiner neu erworbenen Sprachkenntnisse kann ich ausschließlich vor Abji (=Schwester) Firoozeh und Kako (=Bruder) Rasool benutzen. Zu groß ist mein und ihr Spaß daran, dass ich auf Farsi fluchen und schimpfen kann. Soll ich ihre Eltern etwa damit beglücken, sie mit Sätzen zu begrüßen, die ich nicht mal hier zu schreiben wage? Denkt euch das Schlimmste, dann seid ihr nah dran ;-). So bleibt mir nach dem Salam und dem Mamnun (höfliches „Danke“) kaum mehr, als ihnen Nuje Jan zu wünschen. (Das J spricht sich wie das G in Girokonto). Das bedeutet „guten Appetit!“.
Den wünsche ich auch euch: auf den nächsten Beitrag, der bald hier folgt. Da wird es unter anderem um ein multikulturelles Treffen gehen. Zwei syrische Geschwister, die nie wieder zurück in ihr Heimatland reisen können …
4 thoughts on “Glückliche Tage in Ankara”
Schön zu sehen, dass der Blog wieder zu neuem Leben erwacht ist!
Diese Federkunst ist wahnsinnig schön – so etwas sehe ich zum ersten mal.
Ich wünsche Euch eine geniale , glückliche Zeit zusammen.
Danke, Markus! Und wir finden es schön, dass es Leute gibt, die immer noch gern bei uns mitlesen, auch wenn es aktuell weniger abenteuerlich ist als noch vor zwei Jahren. 🙃 Auch ich habe mich in diese filigrane Einhaarpinsel-Malerei verliebt. Dir auch eine gute Zeit! Egal wo. Das Glück hängt zum Glück nicht vom Ort ab sondern von den Menschen um uns herum. ❤️Liebe Grüße!!!
Wieder einmal habt Ihr Eure Erlebnisse an den ersten Tagen toll geschildert!
Das sind Glücksmomente einer ganz besonderen Freundschaft, die durch Eure gemeinsame Zeit in Ankara noch intensiver wird!
Wir spüren die Herzlichkeit, die Euch vier miteinander verbindet.
Merci für diesen wunderbaren Eintrag im Blog, wir freuen uns schon auf den nächsten!
Viele Grüße bei einem guten Kaffee von uns beiden!
Danke, Heidi! Ja, das ist eine richtige Freundschaft geworden. Wir hoffen, dass ihr die beiden bald kennenlernen könnt. Mit herzlichem Gruß auch an Bodo und von Chrissie! Reinhard