Rückblick
„Und? Habt ihr euch wieder eingelebt?“
Keine andere Frage habe ich in den letzten beiden Monaten häufiger gehört als diese. Meist konnte ich nur die Schultern hochziehen. Inzwischen weiß ich: Nein, so wirklich bin ich noch nicht wieder hier. Der Alltag ist nur scheinbar zurückgekehrt. Die Wohnung ist wieder „in Schuss“, wir können uns wieder unzensiert im Internet über die Weltlage informieren, ich habe die Mehrzahl meiner Freunde getroffen, die wichtigsten Arztbesuche absolviert und in „meiner“ Skykneipe die meisten BVB-Spiele gesehen – aber bin ich wirklich wieder angekommen?
Alltag ist das noch immer nicht.
Unterwegs haben die Pläne für den nächsten Tag das Leben geregelt. Da sind wir auch locker mal um vier Uhr aufgestanden, wenn wir um sechs oder halb sieben einen Bus oder Zug erwischen mussten. Da haben Chrissie und ich in zwei Monaten 20 Zug- oder Busfahrten absolviert, die zwischen zwei und 27 Stunden dauerten, Tickets für die nächste Fahrt besorgt und Visa für das nächste Land, Restaurants mit veganen Speisen gesucht, Läden gegoogelt, in denen es Fluppen oder Bier gab, Wäsche gewaschen, Verluste durch Neuanschaffungen ersetzt und Chrissie hat nachts unsere Texte und Videos bearbeitet und hochgeladen – ja, hin und wieder haben wir sogar acht Stunden am Stück geschlafen. Und jetzt?
Die Zeit ist vorbeigerauscht. Es gibt keine Check-Out-Grenzen mehr wie im Hotel. Chrissie muss erst wieder in einer Woche an die Schüppe, mir fehlt (auch mit 73) noch immer die Schule und ich bevorzuge Arztbesuche „nach dem Aufstehen“.
Nicht, dass wir nichts zu tun hätten …
Wir wollen unserem Blog in ein Buch verwandeln und ein Programm für Vorträge mit Leseproben und vielen Bildern basteln. Andere Projekte warten schon länger auf Umsetzung. Aber es fällt schwer, ohne den Zwang fremdbestimmter Zeiten pünktlich an den Schreibtisch zu kommen. Vor allem, wenn außerhalb der Bettdecke eine Kälte lauert, die wir zuletzt Anfang März erlebt hatten. Wo versteckt sich unsere Disziplin? Unser Kampfgeist? Geht es doch zurück auf die Couch?
„Und wie war es?“
Nun ja – mein Leben war bis zu dieser Reise auch nicht gerade langweilig. Mit 10 Jahren habe ich mit einem Dutzend anderer Kinder von Widerstandskämpfern als erste Deutsche das von der SS zerstörte Dorf Oradour sur Glane in Frankreich besucht. Mit 13 lernte ich in einem Ferienlager bei Budapest Kinder aus 15 oder 16 anderen Ländern kennen. Mit 15 habe ich in Helsinki aus großer Nähe Juri Gagarin erlebt und ein Autogramm von der Marathon-Legende Emil Zatopek bekommen. Ostern 68 habe ich in Essen mit vielen anderen jungen Leuten unter der Parole „Bild hat mitgeschossen“ Stahlträger geschleppt, um die Auslieferung dieses Drecksblatts zu blockieren. 1970 konnte ich mit einer Delegation der SDAJ nach Pjöngjang reisen und Kim Il Sung (ja, den Großvater!) sehen – und nach drei Kindern und 35 Jahren Schule durfte ich mit Chrissie nach Guadeloupe, Vietnam, Indonesien, zu den Niagarafällen und nach Kuba fliegen. Keine schlechte Bilanz, finde ich. Aber ich war nie länger als vier Wochen unterwegs. Und jetzt gleich sieben Monate, in denen jeder Tag etwas Neues brachte. So wurde diese Rucksacktour das größte Abenteuer meines Lebens!
Warum? Einerseits gab es die offiziellen und unsere persönlichen Weltwunder: Petra in Jordanien, Persepolis, die chinesische Mauer und die Terrakotta-Armee, die Ruinen von Troja. Die meisten zu einer Zeit entstanden, als noch niemand von „den Germanen“ gehört hatte – unsere Ur-Ahnen hausten noch irgendwo in skandinavischen oder finnischen Wäldern. Das ins Gebetbuch derer, die noch immer „die Deutschen“ für die Krone der Schöpfung halten.
Zweitens die Natur. In Iran, China, Indien und auf Borneo sahen wir atemberaubende Landschaften – und gleichzeitig die zerstörerischen Eingriffe in die Natur.
Unmengen von Plastik werden ins Meer gespült und systematisch die Urwälder abgeholzt, um sie durch seelenlose Ölpalmenspaliere zu ersetzen. Ob man in zehn Jahren noch Orang Utans in Freiheit beobachten kann? Ich bezweifle es. Tiere und Umweltschützer haben in diesen Ländern einen schweren Stand.
Drittens: die Menschen. In den aufregenden Ferienlagern meiner Kindheit kam man mit dem normalen Leben der Menschen kaum in Berührung – das interessierte uns mit 13 oder 14 nicht besonders. Aber jetzt umso mehr. Was wir in den Medien oft nur von Journalisten mit EU-Brille serviert bekommen, hatten wir nun vor eigenen Augen – da half auch die Internetzensur in Ländern wie Iran und China nicht.
Besonders auffällig war die schon an der Kleidung sichtbare Gängelung, ja: Unterdrückung der Frauen in Jordanien, Iran, Malaysia und Indien. Der Koran liefert den Hardlinern die gleiche Munition, die sich einst die katholische Inquisition aus der Bibel herausgepickt hatte.
In fast allen asiatischen Ländern, die wir bereisen konnten, erlebten wir einen täglichen Kampf der Menschen ums Überleben. Besonders schmerzlich war der Anblick der Armen in Indien:
Zehn-, vielleicht Hunderttausende leben in der Nähe der Bahnhöfe unter löchrigen Zeltplanen direkt an den Gleisen, umgeben von Müllbergen und Kotpfützen – Toiletten und Trinkwasser gibt es höchstens an den Bahnstationen. Von den regierenden Kasten scheint sich niemand am Elend der Bevölkerung zu stören. Und wir als Touristen sehen das hilflos an – auch wenn wir unser ganzes Geld an die Bettler verschenkten, änderten wir gar nichts. Hier sind die Regierungen der reichen Länder am Zug, um z. B. die Textil- und Lebensmittelkonzerne zu fairen Handelsbeziehungen und gerechte Entlohnung zu sorgen.
Im Vergleich dazu erschreckt die lückenlose elektronische Überwachung in China die meisten Chinesen offenbar weniger als die europäischen Beobachter. Im Gegenteil. Überwachung ist dort ein Synonym für Sicherheit. Viele Menschen sind stolz auf den Fortschritt der letzten Jahrzehnte. Und so viel muss man ihnen zugestehen: Wir haben keine Elendsviertel gesehen, die Luft in den Großstädten ist besser geworden, weil die meisten Fahrzeuge auf Elektroantrieb umgerüstet wurden. Ein beeindruckendes Netz von Hochgeschwindigkeitsbahnen macht die meisten Inlandsflüge überflüssig – und die Züge kommen alle (!) pünktlich auf die Minuten an. Offenbar kann man ein Land mit 1,5 Milliarden Menschen nicht mit einer lendenlahmen GroKo nach vorn bringen, deren Parteivorsitzenden im Bundestag das Lied von Pippi Langstrumpf singen.
All das hat uns gezeigt: Wir können glücklich darüber sein, in Europa geboren zu sein. Die Senioren in unserem Dorfcafé haben Eigentumswohnungen, Autos und Elektroräder, bekommen jeden Sommer mehr Rente, fahren dreimal im Jahr in Urlaub – und jammern ohne Ende. Eine Woche Indien ohne Luxushotel würde ihnen nützen …
In vielen bereisten Ländern war es kaum möglich, über Politik zu reden. Im Kampf ums Überleben haben die Menschen überhaupt keine Zeit, an Politik, Plastikmüll und das Klima zu denken. Und da, wo wir (wie im Iran) auf große Unzufriedenheit trafen, gibt es keine organisierte Opposition, die der brutalen Staatsmacht entgegentreten könnte.
Am meisten beeindruckt haben uns die Menschen, die wir näher kennen lernen konnten. Darunter sind Frauen wie Mary Eve, eine Kanadierin, die allein um die Welt reist und sich mit „Work & Travel“ über Wasser hält. Da sind auch Marius und Anna, die wir während einiger übel verregneter Tage in Guilin kennen gelernt haben. Die beiden waren vorher vier Wochen mit einem gemieteten Auto in den Steppen der Mongolei unterwegs. Acht Reifenpannen, Motorprobleme, die Kühlerhaube fliegt weg und wird mit Klebeband befestigt. Und dennoch kommen sie heile zurück – unsere Pannen waren ein Klacks dagegen. Aber mehr noch als all den privilegierten Reisenden zollen wir denen Respekt, die täglich um ihre Rechte kämpfen müssen, denen nicht der westliche Wohlstand in den Schoß gefallen ist, die immer wieder neue Ideen und Energie haben müssen, um sich und ihre Familien über Wasser zu halten.
Unvergessen sind vor allem unsere Freunde aus dem Iran, zu denen wir weiter engen Kontakt halten. Wir hoffen sehr, dass ihr Land von dem Chaoten im Weißen Haus nicht in einen Krieg manövriert wird – wir würden sie gerne auch bei uns zu Hause begrüßen.
Wieder hier, sehen wir beunruhigt, wo es wirklich hapert. Rüstungsexporte in Kriegsgebiete werden nicht wirklich gestoppt, eine Saarlandpflanze will „unsere Jungs“ nach Syrien in den Krieg schicken, während rechte Offiziere Mordlisten anlegen, ein ruhmsüchtiger Verkehrsminister verbrennt Millionen in nicht abgesicherten Mautprojekten, die Lügenpartei mogelt sich in die Parlamente und dazu gibt es Richter, die es völlig in Ordnung finden, wenn man Politikerinnen als „Nutte“ bezeichnet und ihr ein paar kleine Vergewaltigungen wünscht. Sind wir in einem Tollhaus gelandet?
Hin und wieder schwärmen wir bei einem Glas Wein von ein paar weit entfernten friedlichen Orten, an denen wir mit meiner Rente gut leben und den deutschen Wahnsinn ignorieren könnten. Aber der eine Platz liegt in einem Land, in dem wir aus politischen Gründen nicht leben wollten, an dem anderen spricht man eine Sprache, die wir in diesem Leben nicht mehr lernen können, an dem dritten gibt es zwar ewigen Sommer, aber Erdbeben und Tsunamis – es gibt kein Paradies und es gibt kein Entkommen aus einer Welt, die nach Verbesserungen schreit.
Die Konsequenz: Wir müssen jetzt und hier etwas tun. Uns engagieren, um gegen den Hass anzukämpfen, für soziale Gerechtigkeit streiten, versuchen, Kinder- und Altersarmut zu überwinden und die heimlichen Beherrscher der Parlamente, die Lobbyisten der Reichen, zu entmachten. Das geht nicht im Alleingang. Chrissie ist deshalb grün geworden und wird sich 2020 politisch engagieren, ich bleibe rot – erste Entscheidungen, um die Resignation zu vertreiben und dem Leben einen weiteren Sinn zu geben. Jeder Optimismus hat seine Grenzen. Aber wie Brecht es einmal formulierte: Ich hoffe, die Herrschenden säßen ohne mich sicherer in ihren Sätteln.
Wir wünschen euch allen ein gutes und gesundes Neues Jahr!
5 thoughts on “Rückblick”
Sehr gut ausgedrückt – bravo!
Euch Beiden auch ein glückliches und gesundes Neues Jahr mit Grüßen aus Ecuador!
Sylvia
Grün ist okay, Rot geht auch noch.
Lila ist die bessere Wahl, da bekommt man alles 😉
Vote Volt
Ein VOLT Mitglied gibt es auch schon in meiner Familie. 🙂
Ein guter Rückblick und zur rechten Zeit. Bei den politischen Einschätzungen in den letzten drei Abschnitten sind wir ganz dicht bei dir/euch. Wir lassen uns nicht entmutigen! Liebe Grüße und die besten Wünsche für euch für 2020.
Liebe Chrissie, lieber Reinhard, das ist ein Fazit, das zum Nachdenken anregt!
Ihr habt ja so Recht, öffnet uns die Augen, macht uns sensibel für so manche Ungerechtigkeiten auf der Welt!
Immer wieder können wir nur „danke“ sagen für Euren Blog, die vielen Erlebnisse und die wunderbaren Menschen, die Euch begleitet haben! Freundschaften und ganz besondere Gefühle sind entstanden und mögen hoffentlich noch lange Bestand haben!
Wir nehmen daran gerne teil und freuen uns darüber.
Schön, dass es Euch gibt!
Mit den allerbesten Wünschen für Euch beide im Jahr 2020, alle anstehenden Aktivitäten und Projekte grüßen wir Euch von gegenüber!