Serbien für Anfänger
Zunächst gehts durch die Vororte von Sofia. Mischbebauung, viel Grün. Eine stillgelegte Fabrik, unmöglich zu sagen, was da mal produziert wurde. Etwas später drei moderne Werkshallen mit der Aufschrift „Gorenje“ – die Marke kenne ich, davon gibt es E-Herde und Waschmaschinen für Einbauküchen in einem großen Bochumer Möbelhaus.
Dann weite, dünn besiedelte Ebenen. Stoppelfelder, so riesig wie einst die kollektiven Äcker. Inzwischen befinden sich, wie mir vor drei Jahren ein Arzt in Warna erzählte, die meisten Felder unter der Fuchtel von großen Lebensmittelkonzernen.
Wir kommen ins Gebirge. Wunderschöne Wälder. Wieder fällt mir ein Karl-May-Titel ein: „In den Schluchten des Balkan.“
Irgendwann bleibt der Zug stehen. Fünf Minuten, zehn. Die Türen sind weit geöffnet. Ein Blick hinaus zeigt: Lokführer und Begleitpersonal stehen auf einer stählernen Plattform, die sich wie ein Bahnsteig dem Verlauf der Gleise anschmiegt. Unter mir Dutzende Kippen. Na, dann!
Ich stelle mich in die geöffnete Tür und gönne mir auch ein Zigarettchen. Mustere die Landschaft. Auf der Anhöhe ein hoher Gitterzaun, dahinter fahren LKWs mal in die eine, mal in die andere Richtung. Baustelle oder Grenzkontrolle? Chrissie fragen.
Wie immer landet die Fluppe nicht auf dem Boden, sondern in meinem privaten Aschenbecher, der zuletzt geleerten Packung. Seit Monaten muss ich notgedrungen mit Filter rauchen und diese scheiß Dinger enthalten unheimlich viele Kügelchen aus Plastik. Und der Tabak einer Kippe verseucht 40-60 Liter Wasser, wie ich gelernt habe. Ich möchte nicht, dass das eine oder das andere nach dem nächsten Regen in den Flüssen und im Meer landen …
Chrissie checkt ihre Navigation. „Das muss schon die Grenze sein.“
„Und was ist mit Dimitrovgrad?“
„Liegt schon in Serbien.“
Verwirrung. Eigentlich hätte ich eine Stadt dieses Namens in Bulgarien erwartet – unter Führung von Georgi Dimitroff wurde dort 1946 die Monarchie gestürzt. Aber nach 1990 hat man dort nicht nur Lenin vom Sockel geholt, sondern auch Dimitroffs Mausoleum geschleift. Weil er Kommunist war.
Zuviel Personenkult? Mag sein. Aber er war für viele Deutsche vor allem der Held des Reichstagsbrandprozesses von 1933. Da wollte der Nazi-Minister Hermann Göring beweisen, dass die Kommunisten den Reichstag angesteckt hätten – und die Verhandlung lief deshalb live im Radio. Aber der Emigrant Dimitroff trieb den Nazi mit seinen scharfen Fragen zu einem Wutausbruch und zur Flucht aus dem Gerichtssaal – die größte Propagandapleite der Nazis …
Der Beamte grinst: „Keine Angst, stellen Sie einfach die Uhr eine Stunde zurück!“
Der Anschlusszug ist auch nur dünn besetzt. Er fährt über Niš bis Belgrad, bietet aber nur den Komfort einer deutschen S-Bahn. Doch bis Pirot geht es auch mal ohne Kaffeeservice. Was erwartet uns da? Fast nichts.
Am Bahnhof selbst können wir unseren Kaffeedurst nicht löschen: kein Wartesaal, kein Kiosk. Von Bahnsteig vier aus muss man einfach die nächsten drei Gleise überqueren, um die Fahrdienstleiterin zu finden. Sie sitzt mit einem anderen Kollegen in einem kleinen Büro. In der Mitte steht wie ein Denkmal eine alte Schaltanlage für die Signale im Bahnhofsbereich – alles noch im Handbetrieb …
Also stellen wir unsere großen Rucksäcke im Büro der freundlichen Stationsvorsteherin ab und machen uns in der Mittagshitze auf den Weg ins Zentrum von Pirot. Eine niedliche, gemütliche Kleinstadt. Mit Markt, Busstation, Schnellrestaurants und Cafés. Viele Leute sehen uns verwundert an. Touristen sind hier so selten zu sehen wie die DFB-Meisterschale auf Schalke. Fast zwei Stunden Erholung bei Kaffee, Pizza und mit Wlan – eine eher lästige Wartezeit.
Nachmittags geht es weiter, aber oftmals quälend langsam. Die Diesellok ist alt, die Waggons sind in Russland hergestellt – aber daran liegt es nicht. Viele Holzschwellen sind der Länge nach geborsten, die Schrauben an den Gleisen haben sich gelockert oder fehlen ganz. Hitze im Sommer, Schnee im Winter – klar. Aber warum wechseln die Serben diese Schwellen nicht aus?
Weil kein Geld da ist. Serbien ist der große Verlierer der Aufteilung Jugoslawiens. Wer früher in diesem Land Urlaub machte, fuhr meist nicht ins Inland, sondern zum Baden an die Küste. Doch nun ist Serbien vom Meer abgeschnitten – und von den gewohnten Urlauberströmen profitieren vor allem Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina.
Die Bahnfahrten teurer machen? Keine Lösung. Verkehr wird in Serbien noch als soziale Aufgabe des Staates gesehen – wie bei uns vor der Privatisierung der DB. So hielt unser Zug nach Niś nicht nur an den Bahnhöfen, sondern auch an weitern Punkten in der Nähe einsamer Dörfer auf dem „platten Land“ – wenn an den Gleisen Leute standen, die mitfahren wollten, oder Passagiere aussteigen wollten. Guter Service – aber Zeit raubend.
Niš erreichen wir erst nach Einbruch der Dunkelheit. Der Bahnhof ist groß, dunkel und leer. Es gibt drei Ausgänge, aber keinen Hinweis darauf, vor welchem wir ein Taxi finden können. Jetzt noch mit allem Gepäck zu Fuß zum Hostel?
Eine Kioskverkäuferin zeigt uns die Stelle, wo ein einsames Taxi wartet. Ich bin gespannt, wo wir landen werden. Noch vermag ich Chrissies Begeisterung über Niš nicht zu teilen.
Die bosnische Hauptstadt war 1980 Schauplatz einer fantastischen Winterolympiade – und 1914, noch als Teil von Österreich-Ungarn, der Ort, der den europäischen Supermächten den Vorwand für den Ersten Weltkrieg lieferte: Ein serbischer Unabhängigkeitskämpfer erschoss dort den österreichischen Thronfolger Prinz Ferdinand.
Am Schauplatz des Attentats stehen heute eine Gedenktafel und ein Exemplar des selben Fahrzeugtyps, in dem der Kolonialherr sein Leben aushauchte.
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Die Rückfahrt nach Nova Varos wurde zum nächsten Abenteuer der unendlichen Fortsetzungsgeschichte von „Dick und Doof im Urlaub“.
Wir verabschieden uns dort und genießen bei Kaffee und Kuchen die herrliche Aussicht auf einen der europäischen Schicksalsströme.
4 thoughts on “Serbien für Anfänger”
Lieber Reinhard,
Da haben wir doch verpasst, dir pünktlich zu deinem Geburtstag zu gratulieren!!!! Herzlichen Glückwunsch nachträglich und DANKE für all eure Berichte, auf die wir in den letzten Wochen schon immer gewartet haben!! Wir gehen davon aus, dass ihr wieder zu Hause seid und dass es euch noch schwerfällt nach all den Erlebnissen der letzten Monate wieder in den Ruhrgebietsalltag einzutauchen. Wir wünschen dabei viel Erfolg, viele schöne Erinnerungen und dir persönlich ein tolles neues Lebensjahr! Peter u. Annemarie
Tolle Erlebnisse, wunderbare Landschaft in Serbien!
Und wieder sind nach anfänglicher Aufregung die herzliche Aufnahme und ein schönes Zimmer gesichert!
Wir sind begeistert von diesen einzigartigen Naturmotiven, dort würden wir jetzt am liebsten mit Euch zusammen die Ausblicke genießen!
Was Ihr so alles mit einem kleinen Fiat 500 und natürlich zu Fuß schafft, Respekt!
Eine bunte Mischung aus neuen Eindrücken in der Natur, Gastfreundschaft, Kultur und Geschichte, kleine Probleme mit der Navigation, etwas Verwirrung auf der Schotterstrecke – Langeweile ist ein Fremdwort!
Die Fotos mit Euren Gastgebern „vorher“ und „nachher“ sagen alles!
Eure Reise ist und bleibt spannend!
Ach, es ist so schön, fast live dabei zu sein! Aber schon ganz bald gibt’s ein Wiedersehen mit Euch, darauf freuen wir uns.
Ein sonnig goldener Herbst in der Heimat erwartet Euch!
Happy Birthday 🥳🌻💥☄️🌈🍾🥂🎂
Und alles Liebe!!!
😂 Reinhard, kommt doch richtig was rum, wenn du zu Hause bleiben musst um eure LeserInnen zu unterhalten.
Merci !
🏝🌋 Liebste Grüße, Bina