Zurück nach Europa
„Eigentlich hätte dieser Blog mit dem Iran enden sollen“, sinniert Chrissie, als wir schon vor der Morgendämmerung auf dem endgültigen Rückweg nach Europa sind.
Wir stehen an der Reling einer Fähre, neben und hinter uns acht oder zehn Lastzüge, zwei volle Reisebusse und in den Lücken zwischen ihnen fast ein Dutzend Personenwagen. Unter uns gurgelt das schwarze Wasser des Marmarameeres.
„Dazu reicht doch ein Nachwort!“
„Willst du einfach noch die letzten Stationen aufzählen?“
Chrissie druckst herum. Ich verstehe sie. Nach dieser langen Tour überfällt auch mich manchmal die Schreibmüdigkeit. Und Chrissie hat viele Nachtstunden geopfert: Außer dem Schreiben eigener Texte für den Blog musste sie meine Beiträge Korrektur lesen, Fotos auswählen, Videos erstellen und Datensicherungen machen. Von all den Recherchen und der Reiseplanung mal ganz abgesehen. Aber nun fragt sie mich: „Was soll denn jetzt noch Spannendes kommen?“
Damit liegt sie zum ersten Mal wirklich schief. Wir wollen auf dem Balkan ja nicht nur Orte aufsuchen, die regelmäßig von Urlaubern aus Westeuropa überflutet werden. Da gibt es noch eine Menge unentdeckte Flecken. Und Abenteuer und skurrile Erlebnisse – die sind uns bis jetzt einfach immer von allein zugeflogen.
Über eine schnurgerade Piste geht es hinein ins Häusermeer. Irgendwann stoppt der Taxifahrer und zeigt auf eine Straßenecke diagonal gegenüber. „Da!“
Wir schultern unser Gepäck: zwei Rucksäcke hinten, zwei vorne, eine Schuhtasche (mit unserer Kollektion veganer Treter), ein Verpflegungsbeutel. Haben die Auswahl zwischen zwei Cafés. In beiden gibt es nur lokale Speisen und Menükarten in der passenden Sprache. Aber links sind noch zwei Plätze frei. Mit Händen und Füßen versuchen wir zu erklären, dass wir weder Fisch noch Fleisch wollen. Die Bedienung versteht nichts, aber dann nähert sich der Chef und fragt in perfektem Deutsch, was wir möchten.
Wunderbar! Es gibt vegane Linsensuppe, Salate, Brot mit Käse und Marmelade.
„Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt?“, fragen wir.
„Ich haben zwölf Jahre lang ein Lokal in Hannover geleitet!“
Nach dem Essen wollen wir herausfinden, wie wir wohl die Zeit bis zur Abfahrt nach Sofia totschlagen können.
„Wann fährt der Bus denn?“
„Um halb zwölf. In der Nacht!“
„Die meiste Zeit können Sie hierbleiben.“
„Schön. Haben Sie Wifi?“
Er schüttelt bedauernd den Kopf und weist mit einer unbestimmten Geste zu den anderen Gästen hinüber: „Denen reicht es, wenn sie mit dem Handy ins Internet kommen …“
Wir fragen nach einem anderen Ort, den er empfehlen kann. „Am Bahnhof vielleicht?“
„Unsicher. Ich bin da ewig nicht gewesen. Aber wenn Sie von dort aus die Straße hochgehen …“
Am Bahnhof: tote Hose. Etwa so viel Betrieb wie in unserem Lieblingssupermarkt zur Bescherungszeit am Heiligen Abend. Also ziehen wir, wie empfohlen, die Straße gegenüber hoch. Dort winkt eine große Mall – und gleich daneben entdecken wir das Café einer US-Kette mit schönen Schattenplätzen im Freien. Und ein kostenloses WLAN …
Wieviel Kaffee und Kuchen wir da in den nächsten elf Stunden vertilgt haben, weiß ich nicht mehr. Es ist ohne Zweifel einer der teuersten und kalorienreichsten Tage unserer gesamten Tour. Chrissie liegt stundenweise mit dem Kopf auf der Tischplatte und schläft. In einer ihrer Wachphasen witzelt sie: „Noch zwei solcher Tage – und du hast dein altes Kampfgewicht wieder!“
Mir bleibt als Konter nur der Hinweis auf das schöne Kleid, das sie für Katharinas Hochzeit in Shiraz gekauft hat …
Muss man mehr erzählen? Nee, es war auch einer der langweiligsten Tage unserer Tour. Bis zum Abend.
Der Bus nach Sofia kommt mit einer halben Stunde Verspätung.
Und am nächsten Morgen landen wir in Sofia. Schöner Bahnhof: Hier gibt es brauchbares Frühstück. Fahrt zu unserem Hostel: Breite Straßen, beiderseits viel Jugendstil-Archtektur, ein gutes Hostel in einem Altbau mit hohen Zimmerdecken.
Nach zwei Stündchen Schlaf und weiteren Tassen Kaffee ziehen wir los und entdecken in der Nähe eine alte christlich-orthodoxe Kirche.
Obwohl ich als Atheist groß geworden bin, habe ich auch meine christlichen Erfahrungen. Immerhin durfte ich als Oberstufenschüler im Dortmunder Musikverein als Tenor nicht nur in Beethovens Neunter mitsingen, sondern auch mehrere Messen und Requien von Mozart, Beethoven und Brahms. Weil ich die Musik toll fand und finde. (Dass ich auch einer blonden jungen Dame wegen mitgemacht habe, stimmt ebenfalls. Aber ich muss gestehen: Es hat nichts genützt.)
Das musikalische Erlebnis der orthodoxen Messe in Sofia stellt emotional alles in den Schatten, was ich bisher in Kirchen gehört und gesehen habe. Kein Wunder, dass in Moskau und Sofia die Kirchen nach dem Untergang des Sozialismus so voll geworden sind. Hier gibt es Trost und eine neue, aber ganz andere Hoffnung.
Für die vielen jungen und alten Gläubigen ist solch eine Messe auch eine sportliche Leistung. Ich habe nicht mitgezählt, aber alle zehn bis fünfzehn Sekunden geht der rechte Arm hoch, um sich streng orthodox zu bekreuzigen: oben, unten, rechts, links. Im Vergleich dazu ist eine katholische Messe eine gemütliche Sache. So habe mich nach zwanzig Minuten diskret entfernt, während Chrissie weiter fotografiert hat.
Neben der Kirche stoßen wir zu einer Gruppe Touristen auf einer kostenlosen Führung durch die Stadt.
Wenige Meter entfernt gibt es einen großen Block mit Wohn- und Geschäftshäusern. Ein Haus beherbergt das Schul- und Bildungsministerien. In Deutschland undenkbar: Ein Minister erledigt seinen Job Wand an Wand mit „normalen“ Menschen. Der Eingang zu seinem Arbeitsplatz wird lediglich von zwei trägen Polizisten „bewacht“, die zwanzig Meter weiter in einer unscheinbaren Holzbude auf ihre Handys starren …
Galerien, Museum, Nationaltheater, Cafès, ein wunderschöner Park, in dem sich abends Liebespärchen und Familien mit Kindern treffen – die gemütlichste Hauptstadt unserer bisherigen Reise. (Zwei Wochen später stört eine Truppe Ultras ein Fußballspiel mit rassistischen Schreien und Hitlergruß – kaum begreiflich, dass es sich um dieselbe Stadt handelt.)
Zwei angenehme Tage später: Nach einem dringend nötigen (und erfolgreichen) Besuch bei einem Bartscherer starten wir am Bahnhof den Versuch, Tickets nach Bulgarien zu bekommen.
An den beiden ersten Schaltern werden wir weggeschickt – hier gibt es nur Inlandstickets. „Schalter 22!“
„Ja, bitte?“„Wir möchten ein Ticket nach Prboj!“„Wohin?“„Nach Prboj. In Serbien.“
„Sie meinen P…?“ (Unverständliches Gemurmel)„Prboj! Ja. Liegt im Westen von Serbien.“
6 thoughts on “Zurück nach Europa”
Der mystische Schalter22. Ist er Bedienelement, Entriegelung, der neueste Gag von der versteckten Kamera, ein Systemfehler der Numerologie oder eine Sehschwäche der Touristen, insbesondere wenn sie aus Bochum kommen. Oder der Arbeitsplatz des Mitarbeiters des Monats?
An meiner Tür habe ich meinen Namensschild bereits gegen „Vertretung Schalter 22“ ausgetauscht. Danke für den Hinweis!
Ich wünsche Euch einen tollen Endspurt und freue mich darauf, Euch in WAT begrüßen zu dürfen.
Manfred
Manfred, es ist auch außerhalb Deutschlands im öffentlichen Dienst oft so, wie Tucholsky es vor fast 100 Jahren (aus dem Gedächtnis zitiert) beschrieben hat: „Es gibt zwei Sorten von Menschen. Die eine Sorte sitzt hinter dem Schalter, die andere steht davor!“
Wieder einmal können wir nur „danke“ sagen für diesen interessanten Bericht einschließlich des musikalischen Erlebnisses und der Fotos von Sofia!
Chrissie tut uns leid; trotz Müdigkeit immer am „Ball“ und bemüht, alle Infos möglichst schnell an die Leser weiterzugeben!
Die 7 Monate Eurer Reise sind so schnell vergangen! Wir haben sie mit Spannung, Freude und auch oft vielen ernsthaften Gedanken verfolgt.
Pirot – kennen wir bisher nicht; was mag Euch da erwarten? Wir freuen uns auf Euren nächsten Artikel im Blog!
Kommt gut weiter auf Eurem Weg zurück nach Hause!
Danke für eure Treue! Das letzte Kapitel finder erst in ferner Zukunft statt: Wenn unsere DB-Tickets nach Bochum endlich in Budapest ankommen. Aber sie sind ja erst drei Wochen unterwegs …
Wie die Zeiten sich doch ändern, früher war der kuhlste Platz im Bus noch in der letzten Reihe…
Neuerdings darf man auch vorne knutschen! 😉