Von Erdogan zu Homer
Auf dem Weg zum Busterminal sehen wir zwei weitere Wasserwerfer und noch mehr Polizei.
Und als wir eine Stunde später mit dem Nachtbus nach Ankara starten, kommen uns kurz nacheinander vier oder fünf Ambulanzwagen mit Blaulicht entgegen. Alle in Richtung City. Gehören diese Beobachtungen zusammen? Wir erfahren es auch später nicht.
Es wird Nacht. Aus dem Schlaf im Bus wird vorerst nichts. Schon nach 50 Kilometern verengen Betonblöcke die Fahrbahn zu einer Schmalspurstrecke. Polizeisperre. Wir werden rechts ran dirigiert. Ein Polizist entert den Bus, sammelt unsere Pässe und die Ausweise der türkischen Fahrgäste ein, verschwindet. Zehn Minuten geht es weiter. Offenbar steht keiner der Namen im Fahndungscomputer.
Die nächste Kontrolle findet 40 Minuten später statt. Alles wie gehabt. Beim dritten Mal kommt ein Zivil gekleideter Hüne herein, eine Passagierliste in der Hand. Dem jungen Mann auf dem Einzelsitz links neben uns stellt er eindringlich mehrere Fragen. Der Fahrgast nennt u.a. den Namen einer kurdischen Stadt, in der er zehn Minuten später aussteigen wird. Seinen Ausweis bekommt er erst nach einem langen, forschenden Blick des Kontrolleurs zurück.
Diabakyr, die größte Stadt im türkischen Kurdistan lassen wir aus. Die nächste Überprüfung beschränkt sich auf eine kurze Gesichtskontrolle, die folgende fällt aus, weil die Polizisten am Straßenrand sitzen, Tee trinken und rauchen – wir haben Kurdistan verlassen. Keine „Gefahr“ mehr, dass im Bus jemand zur kurdischen Befreiungsbewegung unterwegs ist.
Wochen später wird deutlich: Die Türkei führt Krieg gegen die Kurden – auf beiden Seiten der Grenze zu Syrien. 100 Jahre nach dem Genozid an den Armeniern droht hier nun das nächste Massaker. Unsere Regierung will keine neuen Waffen an die Türkei genehmigen – aber liefert sie die bereits genehmigten noch aus?
Ankara
Unser Hotel liegt in der Altstadt. Steile Straßen und Gassen, auf den Hügeln ringsum moderne Hochhäuser. Nach dem Einchecken meldet sich der Hunger. Jede Menge Schnellrestaurants in der Nähe. Gar nicht einfach, etwas Vegetarisches zu finden. Aber eine Pide mit Gemüse tut’s auch.
Nicht weit weg, auf dem höchsten Berg in diesem hügeligen Talkessel, thront eine alte Festung.
Abstieg. Bierdurst. Suche nach einem gemütlichen Kneipchen. Direkt am Weg lockt ein Hotel mit einer kleinen Terrasse. Der freundliche Hausherr versteht unsere Nöte, aber bedauert. Alkoholisches hat er nicht im Angebot, aber einen guten Tipp. Allerdings müssten wir ein paar Kilometer fahren.
Um Geld zu sparen, versuchen wir es zuerst in der Nähe unseres Hotels. Jede Menge schummriger, schwüler Bars mit Türhütern, einsamen Animiermädels, Schweiß treibenden Preisen und Tinnitus fördernder Musik. Nee!
Unsere letzte Hoffnung ist die Adresse, die uns der freundliche Hotelier mitgegeben hat. Wir landen in einer unbeschwerten Kneipenszene.
Der Krieg ist hier weit weg. Und wir sind froh, unseren Schlaftrunk zu bekommen. Wenn das schon uns so leichtfällt, die Bilder aus Van auszublenden …
Istanbul
Am 20. September setzen wir zum asiatischen Ufer von Istanbul hinüber. (Istanbul ist die einzige Stadt der Welt, die auf zwei Kontinenten liegt.)
Wir sind gespannt, ob das alles friedlich abläuft. Auch in Istanbul hat die Polizei in den letzten Jahren manche regierungskritische Aktion mit Schlagstöcken und Gummigeschossen beendet. Aber andererseits gibt es hier jetzt einen liberaleren Bürgermeister, den der Präsident nicht so einfach absetzen konnte. Erdogan hatte zwar eine Wahlwiederholung durchgesetzt – aber der Neue bekam dabei noch mehr Stimmen als zuvor …
Der Zug setzt sich in Bewegung. Bunt, lautstark, aber doch etwas ungeordnet. Entgegen unseren Befürchtungen gibt es keine Zwischenfälle.
Chrissie hat eine Menge zu organisieren. Die Fahrt zu dem legendären Troja, die Weiterfahrt in Richtung Bulgarien, das Buchen von Unterkünften. Chrissie kriegt alles hin. Auch wenn das manchmal mit meiner Dauermüdigkeit kollidiert. Und besonders kompliziert wird es, wenn wir ein Restaurant suchen. Es gibt jede Menge, meist sogar mit schönen Plätzen vor dem Haus.
„Please let me read your menue!“
„Well, look here, wonderful fish .. “
„I’m vegetarian …“
„Okay, chicken with rice?“
„Please, let me read. I can see the pictures and can read!“
„Oh, yes, here you can open our menue …“
Abbruch des absurden Theaters, zehn Schritte weiter folgt die Wiederholung des Schauspiels. Und nochmal zehn Schritte weiter . .
Einen Abend sind wir nach solch einer Foltertour auf dem Rückweg zum Hotel. Ja, wir haben doch noch ein Restaurant gefunden, in dem man a) in Ruhe die Speisekarte studieren durfte und b) wusste, dass Hühnchen, Hammel und Hund nicht zu einem vegetarischen Mahl gehören. Aber wir sind müde – zu viel Rennerei, zu kurze Nächte.
Plötzlich entdeckt Chrissie eine Frau mit einer Einkaufstüte aus Papier und vier aufgedruckten Buchstaben, Nummer zwei und vier sind ein „o“.
Ein Verdurstender, der vor sich im Wüstensand eine Flasche Wasser entdeckt, kann nicht euphorisierter sein: „Kuck mal, hier gibt es einen Laden mit veganen Schuhen!“
Handy raus, Navi gesucht, tipp-tipp-tipp!
„Ja, ganz in der Nähe! Nur 650 Meter!“
Vergleichende Blicke auf Umwelt und Monitor! „He, wir müssen nur diesen Berg hoch!“
Der Weg erinnert mich an die steilsten Aufstiege in der Altstadt von Porto. Nur die 800 Stufen von Petra waren schlimmer.
„Muss das sein? Jetzt noch?“
„In Deutschland kann man die nur online bestellen. Aber hier gibt es einen Laden!“ Und schon wetzt sie los, als gäbe es da oben ein Los für die Rente auf Lebenszeit.
Verbissen schweige ich, denn jeder Protest ist zwecklos. Als ich in ihrem Kielwasser oben ankomme, sucht sie bereits ein paar Schuhe aus. Nicht nur das recycelte Material ist ungewöhnlich, sondern auch die Designs fallen auf.
Auf dem linken Schuh prangt die Aufschrift „Lost in Space“, auf seinem Bruder zischt gerade ein Komet in unendliche Weiten davon. Aber ich bin im Moment nicht vom Kopf bis zum Fuß auf „Star Trek“ eingestellt.
„Such was für dich aus, ich stehe da drüben und erhole mich erst mal …“
Chrissie wird fündig, freut sich und ignoriert mein Grummeln. Immer wieder faszinierend, wie schnell neue Schuhe Frauen glücklich machen können. Und dazu kommt bei veganen Exemplaren die Gewissheit, dass für diesen Einkauf nicht irgendwo ein armes Schwein sterben musste.
Canakkale
Zwei Stunden mit einer Fähre durchs Marmarameer. Das Bötchen fasst mehr als 200 Passagiere und ist fast so schnell wie jene „Raketa“, mit der ich einst von Irkutsk zum Baikal fliegen durfte. Katamarantechnik: Zwei Flossen heben den Schiffskörper hoch und bieten dem Wasser weniger Widerstand. Der Himmel ist blau, das Meer ruhig, kein böses Schaukeln – und wir rauschen an vielen riesigen Containerfrachtern vorbei, die in Richtung Schwarzes oder Ägäisches Meer schnaufen. Nur Fliegen ist schöner – aber das sage ich lieber nicht laut.
6 thoughts on “Von Erdogan zu Homer”
Salut!
Karibische Grüße – wo auch immer ihr gerade seid.
Ich habe eure Berichte – trotz Ortswechsel – natürlich weiter begierig verfolgt.
Als eine, die 3 Jahre in der Türkei gearbeitet hat, weiß ich leider, dass es nicht nur Menschen mit türkischen Wurzeln treffen kann. Die selbst erlebte „Hexenjagd“ war ziemlich nervenaufreibend.
Wie cool, dass ihr in Istanbul bei FFF dabei gewesen seid 😁
Habt es gut auf den letzten Reisetagen. Ich finde zurück kommen schwerer als wegfahren.
Passt auf euch auf.
Liebe Grüße, Bina
Deine Türkeierfahrungen hatte ich längst vergessen. War schon spannend – und wir mussten hier zum Glück nicht arbeiten. Als braver Tourie kommt man ja nicht so schnell in Kollisionsgefahr … Dir noch gute Erholung, egal, wo du gerade steckst. Mal sehen, wer zuerst wieder im Ruhrpott aufläuft: Nächste Woche Freitag wollen wir wieder in Bochum auf die Straße …
Auf Terre de Haut, Guadeloupe.
Dort lerne ich das „Schlendern“.
Nächste Woche Sonntag schlendere ich langsam wieder im Ruhrpott ein.
Freue mich total auf eine Begegnung! Genießt in vollen Zügen! (Also nicht in vollen Zügen – du weißt schon) ✨🌕
Guadeloupe ist klasse! Das war Chrissies und meine erste gemeinsame Fernreise. (Preisfehler-Schnäppchen: pro Person ab Paris und zurück für 199 €!) Malerisch und schön untouristisch. Die einzigen Deutschen haben wir im Nebel oben auf dem Vulkan La Soufriere getroffen – „Nachbarn“ aus Essen-Steele. Aber was meinst du mit „schlendern“? Gute Erholung! Bis bald!
Der erste Teil Eures Artikels liest sich fast wie ein Krimi!
Aber diesen Abschnitt habt Ihr ja unbeschadet überstanden!
Dann folgten Ankara, Istanbul und viele kulturelle Highlights, kulinarische Erlebnisse sowie mal wieder ein freundliches „Welcome“ von Mehmet und seiner Frau!
Und dann ging Reinhard‘s Kindheitstraum in Erfüllung, auf Schliemann‘s Spuren zu wandern! Troja! Toll!
Es geht weiter, Richtung Bulgarien, neue Erlebnisse und Herausforderungen warten auf Euch! Dank Chrissie’s Organisationstalent klappt alles, wenn auch das Internet manchmal Nerven kostet! Kommt gut weiter, bleibt gesund und munter! Sonnige Herbstgrüße aus der Heimat!
Eure sonnigen Herbstgrüße haben geholfen! Schon den dritten Tag wunderschönes Wetter! Die Landschaft hier erinnert stark an die Mark Brandenburg: Sandboden, Wäldchen, kleine Seen, weitgehend flach. Schön! Und in einer Woche sind wir wieder da – gespannt, ob uns im Alltag bald wieder das Fernweh packt …