Der Mund ist ein Juwel
Prolog
„Salam! WOOW, great news! Welcome to Tehran and my home. I am so happy to see you again. Will you come from Shiraz? To Tehran by bus?
Then, if you want and have time we can travel to somewhere in North of Iran together!“
Reinhard
Den Mullahs in Qom entkommen, sitzen wir zwei Stunden in der Eisenbahn nach Teheran. Draußen Wüste und karge Steppe – auf Dauer ein ermüdender Anblick. Unsere Spannung steigt erst in den letzten 25 Minuten, als der Zug durch Teherans Vorstädte und Fabrikviertel schleicht. Dann schleppen wir unser Gepäck zum Hauptausgang. Mehrere Fahrgäste werden abgeholt: freudige Begrüßung. Aber wir stehen noch im Schatten des Gebäudes und halten Ausschau. „Wo bleibt er nur?“
Chrissies Handy meldet sich. Eine What’s App-Nachricht. Von ihm?
„Alles klar, er steht im Stau! In fünf Minuten ist er da!“
Die nächste Zigarette macht die Zeiger der Bahnhofsuhr auch nicht schneller. Aber dann kommt er über den Vorplatz auf uns zu: Ahmad. Nicht sehr groß, kräftig, energisch. Dunkler Teint. Gepflegtes Barthaar unter der Nase und am Kinn. Damit könnte er in einem Remake von „Alexis Sorbas“ glatt den guten alten Anthony Quinn ersetzen. Jetzt hat die Wiedersehensfreude die Lachfalten in seinem Gesicht verlängert. Er strahlt. So wie wir.
„Chrissie!“ Die beiden liegen sich in den Armen, als hätten sie einen Flugzeugabsturz überlebt. Dann bin ich an der Reihe. „Welcome back, welcome!“ Bart gegen Bart. Aber da ist noch genug Platz für drei Wangenküsse, die unter iranischen Männern so beliebt sind wie einst bei Leonid B. und Erich H.. Nur, dass bei den Politikern meist die Freudentränen fehlten.
Chrissie
Endlich sitzen wir im Auto. Ich stelle fest: Wie sehr man jemanden vermisst hat, merkt man, wenn man ihn wiedersieht. Wir kriegen das Grinsen kaum aus den Backen. Ahmad war im April der erste, der uns im Iran begrüßt hat. Er hat seine Zeit geopfert, um zwei Unwissenden Teheran zu zeigen, er hat uns geduldig das Taroof-Konzept erklärt, uns die ersten Brocken Farsi beigebracht, für uns gekocht, zugehört und seine Gefühle und Gedanken mit uns geteilt. Begegnungen wie diese vergisst man nicht. Nun will er wissen, wo wir überall waren. Indien? Ahmad wirkt hellwach, denn er träumt seit Ewigkeiten davon, mit dem Motorrad durch Indien zu reisen. Er will alles wissen von unserer Zeit dort. Reinhard und ich plappern munter drauflos, während Ahmad Fragen stellt und uns gleichzeitig durch den dichten Verkehr steuert bis zu seiner Wohnung steuert.
Kaum sind wir angekommen, will er uns die schweren Rucksäcke abnehmen. Wir schaffen es nicht, in abzuwehren und trippeln nur mit unseren Tagesrucksäcken die Stufen zu seiner Wohnung hinauf.
„Mein Zuhause ist euer Zuhause“, sagt er mit einladender Geste, wie schon beim ersten Besuch damals. Und tatsächlich: Genau wie in Shiraz: Es fühlt sich an wie ein Nachhausekommen.
„Habt ihr Hunger, habt ihr Durst? Ich habe extra vegan eingekauft“, sagt er.
Unser Freund will erstmalig in seinem Leben eine rein pflanzliche Mahlzeit zubereiten. „Meine Schwägerin hat mir ein einfaches Rezept gegeben.“
„Boah! Du bist toll! Das ist echt super“, sage ich und werfe den Rucksack auf den Boden. „Was kann ich helfen?“, frage ich, denn Ahmad beginnt bereits in der Küche zu werkeln.
„Nichts, ich koche. Take a shower! Take a rest!“
„Ich will jetzt aber nicht duschen. Ich will dir helfen.“
Nun wendet er sich an Reinhard und versucht ihn zum Duschen und Ausruhen zu bewegen. Wir müssen beide lachen. Und so passiert es, dass die Aufforderung für die in nächste Woche zum geflügelten Wort wird. Wann immer Ahmad noch unbedingt ungeduldig etwas für uns tun will (und das will er immer!!!), ich ihm helfen oder Reinhard ihn aufziehen will, geben wir ihm diesen Rat: „Ahmad, keep calm. Take a shower! Take a rest!“
In Ahmads riesigem Wohnzimmer gibt es so viele Sofas und Teppiche, dass bei ihm auch zehn Gäste gleichzeitig übernachten könnten, ohne viel von ihrer Privatsphäre zu verlieren.
Wir stellen unser Gepäck in „unserem“ Schlafzimmer ab. Dann überzeugen wir den Freund, dass wir uns kurz an den Tisch setzen. „Wir haben dir was mitgebracht.“ Wir packen unsere Geschenke auf den Tisch: zuerst einen Bluetooth-Verstärker. Ahmad wirkt bestürzt. „Für mich? Ihr braucht mir doch nichts schenken.“
“Wir wollten aber.“ Er packt das Gerät direkt aus und testet es mit einer Sonate in Moll. Er freut sich über den Klang. Wir erinnern uns noch gut: Seit dem Tod seiner Frau sitzt er oft nachts vor seinem Notebook, um an seinem ersten Roman zu arbeiten. Das Schreiben ist ein wichtiger Kanal. Seine Gedanken kreisen fortwährend um die Dinge, die er aufschreiben will. Wenn ihm unterwegs etwas einfällt, macht er sofort eine Notiz. Auf die Hand, auf den Arm, egal, einfach da, wo Platz ist. Und wenn es dunkel wird zu Hause, tippt er. Leise Hintergrundmusik, oft europäische Klassik, hilft ihm dabei, seine Gedanken zu ordnen. Außerdem ist er als Witwer oft allein: Aktuell ist seine Tochter in Japan – gute Musik kann manche Leere füllen.
Das zweite Mitbringsel freut ihn fast noch mehr. Es ist ein Buch, das ich in Isfahan entdeckt habe. Sophies Welt in persischer Schrift. Was für ein Fund! „Oh, ich kenne das. Das Buch haben mir schon zwei Freunde empfohlen. Ich wollte das schon lange lesen. Danke.“
Wir umarmen uns. Dann sagt Ahmad: „Schreibt ihr mir bitte eine Widmung hinein?“
Reinhard
Das Kochen wird nach hinten verlegt. Bei Melone, Kaffee und Tee nimmt Chrissie wieder den Farsiunterricht auf. Immer wieder erstaunlich, wie schnell sie fremde Wörter nachsprechen und behalten kann – ich muss sie immer erst mindestens fünfmal mit der Hand aufschreiben. Aber dazu müsste ich erst die persische Schrift lernen. Mit fast 73? Muss das …? Nein, beschließe ich, höre aber neugierig zu.
Zwischendurch verrät Chrissie unserem Freund, dass sie auch schon ein paar böse Wörter aufgeschnappt hat. „Betschekuni“ gefällt ihm aber gar nicht. Er wirkt regelrecht schockiert. Chrissie fragt nach dem Warum.
„Christin, ein Mund ist wie ein Juwel. Mein Mund ist wie ein Diamant. Ich möchte, dass ihm nur schönes entspringt. Schlechte Worte vergiften, machen unglücklich. Aber gute Worte … manchmal verändern wir nur durch ein gutes Wort ein Leben. Und wie schön ist es, zu sehen, dass die eigenen Worte jemanden glücklich machen. Verstehst du?“
Das Gespräch der beiden wird zunehmend philosophischer. Während ich an einem Blogartikel tippe, schnappe ich immer wieder erstaunliche Sätze auf. Sie landen bald bei Immanuel Kants Kategorischem Imperativ und dem Dalai Lama.
„Gutes tun ist die beste Form des Egoismus‘“, fasst Chrissie gerade die Worte des Tibeters zusammen. Denn anderen Gutes zu tun, macht uns selbst glücklich.“
Am Abend wird dann der vegane Eintopf zubereitet.
ZIch bewundere die Ausdauer der beiden bei ihren Diskussionen. Aktuell: Der Sinn des Lebens. Nicht das kleinste Thema der Welt. Ahmad hasst Streit und wird von der Familie oder Bekannten oft als Schlichter geholt. Woher wir das wissen? Während des Essens erreicht ihn ein solcher Anruf. Eine Nichte, völlig aufgelöst. Er entschuldigt sich und kehrt erst fünfzehn Minuten später zurück. „Eheprobleme“, fasst er knapp zusammen. „Die meisten Probleme entstehen wie bei den beiden aus Missverständnissen. Ich versuche zu vermitteln, zu übersetzen.“
„Und wenn dich mal jemand anblafft?“, will Chrissie wissen. „Das ist doch so schwierig, dann die Nerven zu behalten, wenn man sich ungerecht behandelt fühlt.“
„Dann gehe ich erstmal einen Schritt zurück und frage: was habe ich falsch gemacht? Warum bist du sauer?“
Ich höre zu und denke: wir können noch eine Menge von diesem Mann lernen.
Am nächsten Morgen will ich wieder an die Tasten – der Blog wartet. Aber zunächst öffne ich mein Postfach. Schock. Die Frau meines besten Kumpels ist gestorben. Eine tapfere, kreative, liebenswerte Frau. Krebs. Chrissie nimmt mich in den Arm und heult mit mir. Auch Ahmad bekommt feuchte Augen. Vermutlich denkt er an seine Maryam. In mir steigen ganz alte Bilder wieder hoch: Reinhard mit 17 hilflos am offenen Sarg seiner ersten Freundin. Und mir fallen dann die alten Luther-Verse ein, die wir im Schulchor gesungen haben: „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen … “
Scheiße, ja, so ist es. Aber wie damit umgehen? Was soll ich meinem Freund schreiben? Ich grüble. Gibt es überhaupt „richtige“ Worte …? Ich brauche sehr lange, um den ersten Satz zu schreiben …
Chrissie
Ahmad und ich lassen Reinhard für einige Zeit allein. So fertig habe ich ihn nur wenige Mal gesehen. Ich glaube, er ist froh, dass er eine Weile für sich sein kann. Außerdem ist es die letzte Gelegenheit vor unserem geplanten Aufbruch aus Teheran, um zur Visastelle der deutschen Botschaft zu fahren. Wir haben Ahmad nämlich eingeladen, uns in Bochum zu besuchen. Und zu unserer großen Freude hat er Ja gesagt! Wenn alles gut geht, sehen wir ihn im Dezember wieder und er feiert mit uns und Freunden meinen Geburtstag. Mit dem Mopped düsen wir durch die Lücken im Stau, der allgegenwärtig ist auf allen Haupt- und Schnellstraßen.
Die deutsche Botschaft erreichen wir eine knappe halbe Stunde später. Aber die Fahrt hätten wir uns sparen können. Die Tür ist verschlossen. Keine Sprechstunde heute? Im Internet hatte ich eine andere Info dazu gefunden. Ich klingele. Eine blecherne Frauenstimme sagt etwas auf Persisch, dass ich nicht verstehe. Ich antworte auf Deutsch: „Ich möchte, dass mein Freund uns in Deutschland besuchen kann. Wir brauchen ein Visum.“
Die Stimme wechselt auf Deutsch um. „Moment.“
Die Tür geht danach zwar nicht auf, aber dafür eine kleine Luke in Kopfhöhe. Eine Iranerin mit blond gefärbten Haaren. „Sind Sie Deutsche?“
„Ja.“
„Haben Sie einen Termin?“
„Nein, wir haben nur ein paar …“
Weiter komme ich nicht. „Sie brauchen einen Termin“, unterbricht sie mich. „Auf unserer Webseite ist genau aufgeführt, welche Unterlagen mitgebracht werden müssen.“
Nett, denke ich, lächle aber und bedanke mich. „Das war nix“, sage ich zu Ahmad, der mich fragend anguckt. Aber der hat noch eine Idee. „Es gibt noch ein Servicebüro, die mit der deutschen Botschaft zusammenarbeiten. Ist nicht weit von hier.“
Rauf aufs Mopped, weiter.
Aber auch dort, kommen wir nicht sehr viel weiter. Aber immerhin versprechen die Jungs dort, dass sie kosten alle einzureichenden Unterlagen auf Vollständigkeit und Richtigkeit prüfen, bevor der Termin mit der Botschaft gemacht wird.
Wir lesen, was benötigt wird. Ach, du Scheiße, denke ich. Mich würden die also nicht einreisen lassen, wäre ich Iranerin. Neben den letzten drei Verdienstbescheinigungen und einem Nachweis, dass man sich den Urlaub leisten kann (Bestätigung der Bank), benötigt man Kontoauszüge in englischer Schrift und … einen Nachweis über die Rückreisewilligkeit. Hä? Reichen Sie z.B. einen Nachweis über Eigentum wie z.B. Immobilien ein, lese ich. Aha! Und wenn man keine hat?
Zum Glück stellt sich diese Frage für Ahmad nicht. Und Reinhard und ich können zusätzlich von zu Hause helfen, indem wir ein Einladungsschreiben versenden und im Amt beglaubigen lassen. „Das erhöht die Chancen ungemein“, sagt der Mitarbeiter des Servicebüros.
Schade, das Thema muss also warten, bis wir zu Hause sind.
Bevor es zurück geht, bitte ich Ahmad an einem sehr großen Supermarkt zu halten. Ich will mich revanchieren für das Essen vom Vortag. Eigentlich sollten es nur ein paar Zutaten für einen veganen Kartoffelsalat und ein Chili sin Carne werden. Ich finde wirklich alles. Kala Namak, Sojagranulat …und leider noch vieles mehr …
Am Ende haben wir sechs vollgepackten Tüten in den Händen. Erst da fällt mir ein: Mist, wir sind mit dem Motorrad hier.
Fragt nicht. Es ist Asien. Da werden noch ganz andere Dinge auf zwei Rädern transportiert. Zwei Tüten klemme ich zwischen mich und Ahmad, zwei halte ich in der linken Hand, während ich mich mit der rechten hinten am Sitz festhalte. Zwei weitere Taschen hat Ahmad irgendwie vor sich untergebracht. Als wir „zu Hause“ ankommen, atmen wir erleichtert auf und Ahmad stellt nüchtern fest: „You are a crazy woman, Christin.“
Reinhard.
Der Kartoffelsalat schmeckt auch ohne die üblichen Bockwürstchen. Ahmad spielt eine Klavierballade über den neuen Lautsprecher. Jeder hängt seinen Gedanken nach. Alle sind stiller als gestern noch.
Sehr spät will Ahmad noch mal losfahren, um einen seiner Brüder zu besuchen. „Neulich war ich nur zwanzig Minuten bei ihm. Er hat sich beschwert.“
„Oh! Aber wir haben fast Mitternacht. bist du sicher, dass …?“
Väterliches Lächeln.
„Mein Bruder ist ein Nachtmensch. Genau wie ich.“
Keine 45 Minuten später klingelt es aber schon wieder an der Tür. Ahmads kündigt sich an, bevor er den Schlüssel im Schloss herumdreht.
„Das war aber ein kurzer Besuch“, sagt Chrissie.
Als Antwort hält der Iraner beide Hände hoch. Sie sind schwarz, mit Öl verschmiert.
„Was ist passiert?“
„Das Auto ist kaputt. Irgendwas mit der Wasserpumpe …“
Er hat versucht, den Wagen zu reparieren, musste ihn aber am Ende doch zu einer Werkstatt schleppen lassen.
„Sie wollen bis morgen Abend fertig sein. Ich hoffe, es klappt.“
Unsere gemeinsamen Pläne stehen nun auf der Kippe. Eigentlich wollten wir am übernächsten Tag los. In den iranischen Norden, von dem nicht nur unser Freund immer wieder schwärmt. Auch wir haben gute Erinnerungen an die Orte, an denen wir waren. Ahmad möchte uns unbedingt seine Lieblingsplätze zeigen, wir möchten ihn gern mit unserer liebsten Familie im Norden bekannt machen. Mit Hamed und seinen Eltern in Fuman. Doch nun heißt es: Abwarten.
Der nächste Morgen:
Während Ahmad sich schon früh um 08:00 Uhr um sein Auto kümmert, bestellen wir ein Snapp. Selbst in dieser hektischen Stadt gibt es ein paar schöne Cafés, die von Kennern empfohlen werden – eines davon liegt in einem ruhigen Park. Unser Freund ist besorgt, obwohl wir inzwischen genug Erfahrung haben, um nicht ständig betuppt zu werden. Noch vom Fenster aus gibt er dem Taxifahrer ein paar Anweisungen. Doch der Mann versucht es trotzdem. Auf halber Strecke will er uns vor ein paar Bäumen absetzen, hinter denen sich das Café angeblich verbirgt. Doch Chrissie hat wie immer ihre App eingeschaltet und kann dem Mann zeigen, dass wir noch elf Kilometer vor dem angegebenen Ziel entfernt sind. Mit unbewegtem Gesicht fährt er uns hin. Trinkgeld kannst du dir klemmen, denke ich, als ich die Rials abzähle.
Das Café ist leider auch nicht so toll wie angenommen. Dafür gibt es gleich daneben einen gepflegten Buchhandel. Chrissie möchte ein Farsi-Lehrbuch. Ich schaue mich um. Spannend. Die meisten Frauen haben hier ihren Hejab abgelegt. Ein Angestellte zeigt Chrissie zuerst eine bebilderte Fibel für Kleinkinder, doch einer ihrer Kollegen kennt sich besser aus.
Und anschließend finden wir doch noch einen Traum von Café in einem wunderschönen Hinterhof. Rostiger VW Käfer in der Ecke, dekoratives Geschirr in einem Wasserbecken in der Mitte. Bäume, Schatten, Kaffee, schreiben, entspannen.
Leider ist Ahmads Auto ist abends immer noch nicht fertig. Das klappt erst am nächsten Tag, so dass wir erst am späten Nachmittag in den Norden starten können.
Ramsar ist unser Ziel, eine Stadt direkt am Südufer des Kaspischen Meeres. Das Wochenendhaus des älteren Bruders liegt in dieser Stadt. „Es ist sehr schön da und Akbar hat uns herzlich eingeladen, die Wohnung zu nutzen.“
Wir freuen uns, packen zusammen und brechen auf.
Eilige nehmen normalerweise den Highway nach Rasht, bevor es nach Ramsar geht. Aber Ahmad hat eine bessere Idee. Er steuert schon bald von der breiten Schnellstraße nach rechts auf eine kurvenreiche Strecke durch das Alborz-Gebirge. „Ich fahre mehrmals im Jahr hierher und kenne die Strecke gut. Landschaftlich wunderschön. Das wird euch bestimmt gefallen.“
Es gefällt. Sehr gut sogar, denn das Panorama ist abwechslungsreich. Ein Flüsschen sorgt für ein grünes Tal mit vielen Ausflugsrestaurants und einem Stausee, mit dessen Wasser Teheran versorgt wird.
Bis zu den Gipfeln erfreut uns sommerliches Wetter, aber auf der Nordseite empfangen uns Nieselregen und kühlere Temperaturen.
Ahmad telefoniert gelegentlich während der Fahrt. Der Bruder hat schon alles für ein iranisches Dinner vorbereitet, doch Ahmad stoppt noch einmal in Noshahr. Nach über fünf Stunden Fahrtzeit muss ein Päuschen drin sein. Mit einem Abstecher von wenigen hundert Metern landen wir am Strand des Kaspischen Meeres. Milde Brandung, Meeresrauschen, ein paar Leute stehen bis zu den Knien oder zum Bauch im Wasser. Und wir haben Glück. An diesem hübschen Fleckchen hat es nicht geregnet. Die Temperaturen sind mild und niemand hat einen Ghettoblaster aufgedreht. Schön. Wir trinken eine Tasse Kaffee auf der Picknickdecke, machen ein paar Fotos und genießen die nächtliches Kulisse.
Ahmad blickt stumm aufs Wasser. Er war oft mit seiner Frau hier. Als er die Hosenbeine hochkrempelt und aufsteht, sagt er nichts. Wir sehen, wie er sich die Knöchel von der Brandung umspülen lässt. Wir verstehen. Jedes Sandkorn birgt eine Erinnerung.
Nach einer halben Stunde packen wir ein. Kurswechsel nach Westen, immer dicht am Meer. Noch eine knappe Stunde bis Ramsar. Akbar wartet schon fast zwei Stunden darauf, endlich denn Grill für das Kebab anwerfen zu können.
Doch einen Kilometer vor unserem Ziel: Verkehrsstau. Auch in Ramsar sind Hunderte Muslime noch mitten in der Nacht unterwegs. Alle in Schwarz, viele junge Leute, zuerst ein Block Jungs, dann – mit gebührendem Abstand – die jungen Frau, alle mit eng gebundenem Kopftuch. Pauken und Gesänge bis lange nach Mitternacht – die strenggläubigen Muslime sind immer noch in Verzückung wegen des vor 1200 Jahren ermordeten 8. Imams Houssein …
Trotz der sehr späten Stunde – es ist schon 23:45 Uhr – werden wir von Akbar und seiner Frau Sora freundlich empfangen. Ahmads und sein Bruder haben trotz des grauen Haars kaum Ähnlichkeit. Nebeneinander wirken die beiden wie verträumter Philosoph vs. kultivierter Geschäftsmann. Sora ist zurückhaltend. Sie legt auch im Haus das Kopftuch nicht ab. Akbar zögert erst, als Chrissies ihm die Hand hinstreckt – doch dann siegt der Diplomat über den Muslim und er drückt ihr kräftig die Rechte. Ahmad hatte uns vorher schon ein wenig gebrieft. „Mein Bruder ist in Sachen Religion deutlich konservativer als ich.“
Das Ehepaar lebt eigentlich in Teheran. An diesem Wochenende sind sie vor Ort, um einige Fragen zur Bebauung eines Grundstücks zu regeln. Beide sprechen nicht nur Persisch und Türkisch, sondern auf fließend französisch.
„Parlez vous francaise?“
„Leider nein. Wie kommt es, dass ihr französisch sprecht?“
Akbar erläutert, dass er viele Jahre in verschiedenen afrikanischen Ländern als Botschafter gearbeitet hat. Gebannt hören wir ihm zu, während Sora uns mit Tee bewirtet. Mehr als einmal wurde der Diplomat bedroht. „Ein Mal stand mir ein Straßenräuber gegenüber. Er bat mich sehr höflich, ihm meine Geldbörse auszuhändigen. Der trat auf wie ein Gentleman, deshalb habe ich ihn erst nicht ernst genommen. Als ich ihm sagte, dass ich nichts habe, hatte ich plötzlich ein Messer am Hals.“ Akbar lacht leise. „Da habe ich ihm lieber meine Geldbörse gegeben. Und das war auch gut so. Ich habe natürlich direkt Anzeige erstattet. Dabei habe ich erfahren, dass erst am Vortag jemand um sein Geld gekämpft hat. Der war danach tot.“
Akbar entschuldigt sich nach dem Tee und grillt das Fleisch. Für Chrissie finden sich zu dem selbst mitgebrachten Salaten noch Pellkartoffeln, Gurken, Tomaten und Oliven.
Es ist ein interessanter Abend, der erst weit nach ein Uhr in der Früh endet. Alle gähnen herzhaft und wir wünschen uns eine gute Nacht. Chrissie und ich bekommen ein Gästezimmer, das mit einem Vorhang vom Wohnzimmer getrennt ist. Ahmad rollt nebenan seine Matratze auf dem Boden aus.
So endet die erste Nacht. Wieder einmal durften wir die iranischen Gastfreundschaft neu kennenlernen: die Freude an Gesprächen, Interesse am Gegenüber und eine unglaubliche Großzügigkeit – selbst wenn es „Ungläubige“ sind wie wir. ❤️
5 thoughts on “Der Mund ist ein Juwel”
Eure gemachten Erfahrungen, die Begegnungen mit den Menschen und die daraus resultierenden Geschichten sind auch wie Juwelen.
Leben eben …
Und Leben ist Traurig. Und Schön.
Und alles dazwischen.
Kraft und Zuversicht!
Und: was ein Mann, der Ahmad.
Das ist der Vorteil unserer Tour gegenüber organisierten Reisen: Wir sehen einfach mehr vom wirklichen Leben. Was Ahmad angeht – er ist wirklich phänomenal. Aber du musst nicht extra nach Teheran radeln, um ihn kennen zu lernen: Wir helfen ihm, soweit wir können, uns bald in Bochum zu besuchen …
Wieder einmal seid Ihr in Eurem „Zuhause“ zusammen mit Eurem Freund Ahmad!
Es ist alles so vertraut wie in einer Familie, in der Freud und Leid geteilt werden.
Wir finden es auch super, wie sehr sich Ahmad um seine Mitmenschen kümmert, sich auf Euch einstellt, mit Euch kocht, Gedanken austauscht, immer darum bemüht ist, dass es Euch gut geht und Ihr auch den Norden seines Landes näher kennenlernt.
Schön, einen solchen Freund zu haben!
Wir hoffen und wünschen, dass das Visum ohne große Probleme für den Besuch bei Euch zu bekommen ist! Bis dahin bleibt noch etwas Zeit, Farsi zu lernen, zwei Worte haben wir uns auch schon eingeprägt: „chetori?“ und „khosh amadid!“
Gute Weiterreise in Richtung Heimat!
Es ist doch toll, dass man so schnell mit Menschen so vertraut sein kann. Unser Orthopäde in Bochum ist auch aus dem Iran und ein ebenso netter Mensch. Wie geht es bei euch jetzt weiter?
Liebe Grüße aus Spanien, wo wir jeden Tag ca. 20 km wandern.
Quer durch die Türkei nach Westen – Van, Ankara, Istanbul, TROJA! Dann geht es mit Fähre und Bus oder Zug nach Sofia – da waren wir auch noch nie …