Freudentränen in Shiraz
Eine weitere halbe Stunde vergeht. Dann springt Reinhard plötzlich auf. „Da sind sie!“
Auch ich kämpfe mich vom Sessel der Hotel-Lobby hoch und gehe zur Tür. Da kommen sie uns auch schon mit ausgestreckten Armen entgegen. Diese vertrauten Gesichter! Vier Monate haben wir sie nicht gesehen. Und plötzlich muss ich heulen wie schon lange nicht mehr. Denn ich weiß nun, dass ein Teil von mir für immer hier geblieben war. In Shiraz, bei Fahranaz und Amon. Noch vor wenigen Tagen sah die Welt ganz anders aus – und auch unsere Pläne. Das war in Indien:
„Kacke!“
„Was ist denn jetzt schon wieder?“
„Ich komme mit dem Visumsantrag für Pakistan nicht weiter.“
„Ich dachte, per VPN erreichst du die Seite?“
„Ja, die Sperre konnte ich umgehen. Aber die Experten da mögen wohl keine Mobilgeräte. Hier, guck!“
Ich zeige Reinhard die Anzeige der Webseite, über die ich ein e-Visum beantragen möchte. „Device incompatibility“, steht da. Mehr nicht.
„Hast du es schon mit dem Handy pro…“
„Logo.“
„Sollen wir es dann doch über die Botschaft in Delhi probieren?“
„Vergiss es. Die Leute, die es probiert haben, mussten mehrere Wochen warten. So viel Zeit haben wir nicht.“
Mir brummt der Kopf. Alle Alternativen zu Pakistan für den Rückweg nach Hause sind keine. Entweder ist der Weg zu weit oder zu gefährlich. Indien und Pakistan sind sich spinnefeind. Von Pakistan aus kommen wir zudem nicht über Land in den Iran – es sei denn, wir schlagen die ausdrücklichen Warnungen des Auswärtigen Amtes zum Gebiet Belutschistan in den Wind. Ich halte es wie immer. Plane nur so weit, wie du gucken kannst.
„Ich schreib mal einen Kollegen in Essen an. Vielleicht kann der mir die Zugangsdaten zu einem unserer Cloudserver schicken. Dann kann ich von da aus die Webseite aufrufen.“
Gesagt, getan. Wenige Stunden später habe ich nicht einfach nur eine nette Antwort im Postkasten, sondern gleich noch die gewünschten Zugangsdaten. Applied technologies – ihr seid die Besten! 💚
Mit neuer Motivation lade ich eine Remote Desktop App nach der anderen auf mein iPad. Sie alle scheitern daran, dass man keinen sogenannten FQDN angeben kann, also einen eindeutigen Servernamen im Netz. Die Apps wollen alle eine feste IP-Adresse. Der Cloudserver, den mein Kollege für mich freigegeben hat, hat aber keine statische IP-Adresse.
Mit der sechsten App klappt es endlich. „Connected“, sagt der Statustext. Doch Pustekuchen. Ich sehe nur einen weißen Bildschirm. Nach mehr als zwei Stunden gebe ich auf. Ich muss einen richtigen Computer finden, von dem aus ich das Ganze probieren kann.
Doch bevor es dazu kommt, erreicht uns eine Nachricht aus der fernen Heimat.
Reinhards ältere Tochter heiratet ihren langjährigen Freund. Grund zur Freude! Aber: Die Hochzeit findet am 01.11. statt. Einen Monat vor unserer geplanten Rückkehr …
Einige weitere Tage vergehen, bis wir die Entscheidung fällen: Wir müssen fliegen, auch wenn wir uns wünschten, dass es einen besseren Weg gäbe. 😕
Der Flug nach Shiraz ist schnell gefunden. Per Atmosfair lassen wir ausrechnen, wie viel CO2 wir verbrennen. 1073 kg für uns beide. Atmosfair berechnet als CO2-Ausgleich 35 Euro. Wir runden auf 50 Euro auf. Wir buchen.
Und plötzlich sind wir aufgeregt wie vor Beginn unserer langen Reise. Zurück in den Iran. Das Land wunderbarer Freunde. Was wir dort erlebt haben, ist so schön, so einzigartig. Mein Herz klopft und ich merke, dass ich so glücklich nicht mehr war, nachdem wir den Iran verlassen haben.
Und nun stehen wir vorm Hafez Hotel in Shiraz, liegen uns in den Armen. Ich kann nicht aufhören zu heulen. Farahnaz drückt mich. „Christi, ich hab so sehr geweint, als ich gelesen habe, dass ihr wiederkommt. Jetzt habe ich keine Tränen mehr. Ich bin nur noch fröhlich.“
Reinhard
Amon klopft mir zur Begrüßung auf die Schulter und dann schauen wir auf die beiden Frauen. Er zieht lächelnd die Schultern hoch und ich breite hilflos die Arme aus. Klar, freuen wir uns. Aber das hier ist schon verdammt dramatisch. Die Mädels sind wie Luise und Lotte aus Kästners „Das doppelte Lottchen“, als sie endlich die Wiedervereinigung ihrer Familie feiern können. Und diese beiden haben sich ja tatsächlich schon als Schwestern adoptiert und sich wirklich vermisst. Aber muss man deshalb auf offener Straße weinen? Männer tun das nicht. Vor allem nicht im Iran. 😉
Wir gucken uns an und können es nicht fassen. Es dauert, bis ich mir die Tränen abwischen und die anderen Menschen auf dem Parkplatz wahrnehmen kann. Einige wohlwollende Blicke treffen uns. Eine Frau, die lose ein buntes Tuch über ihren Hinterkopf geworfen hat, lächelt uns an. Iran – oftmals anders, als alle denken.
Und Amon?
Am Ende müssen wir aber noch einen Streit ausfechten. Es geht ums Bezahlen. Gastfreundschaft ist ein sehr unzulängliches Wort ist für das, was hier im Iran gelebt wird. Amon und ich kämpfen fast, um die Rechnung zu begleichen. Er schiebt seine Karte zur Kassiererin, ich drücke ihr wahllos ein Bündel Geldnoten in die Hand, weil ich nicht weiß, was es kostet, und Amon sich weigert, den Preis zu übersetzen. Geld und Karte werden mehrmals hin- und herbewegt. Die Kassiererin ist mehr als nur irritiert. Am Ende schaffe ich es irgendwie, mich mit Bogenstahl-Sturheit durchzusetzen. Ein Punkt für mich. Einige der folgenden Runden werde ich jedoch haushoch verlieren.
Reinhard
Am nächsten Tag schlafen wir aus. Die Reise von Delhi nach Shiraz war schon heftig. Das war nicht nur ein Flug, sondern es waren drei. Von Delhi nach Ahmedebad, von dort Dubai und dann endlich in den Iran. Keiner der Flüge dauerte viel länger als zwei Stunden. Aber die Wartezeiten! Drei Stunden in Dubai – und acht in Ahmedebad. Und da sind wir echt in eine Falle gelaufen. Als wir gegen 18 Uhr von Terminal 1 zum Terminal 2 wechseln, müssen wir am Eingang schwer bewaffneten Sicherheitsleuten Pass und Flugschein zeigen. In der Halle stellen wir fest, dass es außer uns noch keine anderen Passagiere gibt. Die Anzeigentafel verrät, warum: Hier werden offenbar nur Nachtflüge gestartet. Keiner der Check-in-Schalter ist besetzt, es gibt nichts zu essen und zu trinken – dazu muss ich wieder raus. Aber eine Soldatin und ein Soldat mit Kalaschnikows versperren mir den Weg: „Das ist verboten!“
Ich erkläre, warum ich das Terminal verlassen will.
7 thoughts on “Freudentränen in Shiraz”
Die Samurai der nachindustriellen Zeit dieser Welt, dienen nicht mehr Kraft ihres Ansehens, ihrer Autorität oder gar mit dem Schwert, sie beherrschen die Tastatur. Ehrhaftigkeit oder gestählte Muskeln sind nicht mehr erforderlich. Ehre wird nicht im kreuzen zwischen Metall und Klinge ermittelt, sondern per Tastendruck auf jeder Distanz. Ich habe vor der Klinge weniger Angst, als vor der Folge und Reichweite eines Tastendrucks. In Eurem Fall entschied ein Tastendruck in Essen über Freizügigkeit oder Stillstand, Gott sei Dank für Euch positiv.
Als Modeberater tauge ich nicht, aber wenn man etwas außergewöhnliches haben möchte, dann ist das schöne Kleid unschlagbar. Ihr habt auf Eurer Reise so viel Mut bewiesen, da könnt Ihr Euren Dress-Code für die Feier wohl auch noch selbst bestimmen.
Für den Reinhard hätte ich noch einen weißen Anzug aus den 70ern, mit ganz viel Schlag (nur 1x getragen). Wie gesagt, Mut habt Ihr ja genug.
Beim Lesen kann man förmlich spüren, wie befreit Ihr im Iran seit. Das soll keine Wortspielerei sein, sondern mein Empfinden. Außerdem sagen die Fotos mehr als tausend Worte es vermögen.
Möge die Freundschaft zu Shiraz und Amon Bestand haben.
Gruß aus Bochum
Ja, Indien war eine schlimme Erfahrung. Angesichts des unbeschreiblichen Elends, das man überall sieht, können wir die Indien-Euphorie vieler anderer Reisender nicht nachvollziehen. Am schlimmsten war das Gefühl, vor Ort nicht wirklich helfen zu können. – Tastendruck oder Schwert? Man sollte Regierungschefs, Kriegsminister/innen und die Bosse der Rüstungsindustrie zum Duell in die Arenen jagen. (Erich Kästner hatte eine ähnliche Idee schon vor vielen Jahren, u. a. in dem leider kaum bekannten Theaterstück „Die Acharner“.) Solche Einschaltquoten könnte keine Olympiade erzielen. 😉 – Danke übrigens für das Angebot, mir deinen weißen Anzug mit Schlaghose zu leihen! Schlank, wie ich inzwischen bin (ca. 12 kg weniger), wäre ich der Modestar des Abends. 🙈
Was für ein wunderschöner Bericht von diesen Erfahrungen/Emotionen und Eindrücken!!! Ich habe die Zeilen förmlich verschlungen 🙂
Salaam!
Christiane in einem Traumgewand als persische Prinzessin! Wir sind begeistert, auch von Eurer guten Laune und Fröhlichkeit. Die ist ansteckend! 😉
Habt einen schönen Tag zusammen!
Ihr werdet Chrissie in diesem Stöffchen nicht wiedererkennen. Im Übrigen ist das Paket schon unterwegs. Leider deutlich teurer als in Thailand – aber man gönnt sich ja aonst nix. 😉
Ihr Lieben, das ist wieder einmal ein sehr bewegender Bericht über das Wiedersehen mit Euren Freunden in Shiraz!
Wir könnten unendlich viel darüber schreiben, was uns so beeindruckt, die herzliche Ausstrahlung, Freude und vieles mehr, was die Fotos aussagen! Dafür benötigt man keine Worte!
Ehrlich gesagt, beim Lesen sind auch bei uns einige Freudentränen gekullert!
Wir sind natürlich sehr auf Dein in Shiraz erworbenes Kleidungsstück gespannt, liebe Christiane, und hoffen, dass es Dir mittlerweile wieder gut geht! Solltet Ihr für den Transport vorab den Postweg benutzen wollen, Ihr habt ja unsere Adresse!
Für heute viele liebe Grüße aus der Heimat!
Dank für euer Lob – und das Angebot. Natürlich werden wir das Kleid nicht in den Rucksack stopfen. DHL gibt es auch im Iran. Und ihr habt das Vergnügen, es als Erste sehen zu können!