Zu Fuß nach Indien
Alles? Nein. Da gibt es noch das Dschungelbuch des Besatzungsoffiziers Rudyard Kipling – Vorlage für einen tollen Film. Kipling schrieb aber auch, jedes englische Soldatengrab in Indochina sei ein Fleckchen Erde, „that is forever England“. Weit gefehlt. Denn da kamen noch etliche Befreiungskriege sowie Mahatma Gandhi, Nehru und Indira Gandhi – die dem freien Indien Weltgeltung verschafften.
Viele (West-) Deutsche faszinierte ein anderes Indien-Bild. 1958/59, lange vor Bollywood, drehte Fritz Lang mit Debra Paget und Paul Hubschmid die Abenteuerschnulzen „Der Tiger von Eschnapur“ und „Das indische Grabmal“. Diese Kassenschlager weckten bei vielen Zuschauern heftiges Fernweh; aber das konnten sie wegen der gigantischen Flugpreise vorerst nur an der Adria befriedigen. Erst die Himalaya-Gurus, die Seelenfrieden und eine schmerzfreie Wiedergeburt versprachen, lockten die Vorläufer der heutigen Rucksacktouristen in die Region – noch ganz ohne Internet und GPS. Im Vergleich dazu sind wir schon fast Luxusreisende …
Später wird die Straße holpriger, Baustellen mit Sand, Schlamm oder Schotter. Vor einem Flusstal hört die Fahrbahn plötzlich ganz auf – aber da ist ja noch die alte, einspurige Eisenbahnbrücke. Ein heftiger Schwenk und wir steuern auf das Stahlgerüst zu. Die Schienen klemmt der Fahrer zwischen die Busräder – und schon rütteln uns die von Sand bedeckten Holzschwellen durch. Zwischen unseren Bordwänden und den Nieten des Brückengeländers bleibt so wenig Platz, dass ich jede Sekunde schreienden Stahl erwarte – aber wir halten Kurs. Als Chrissie endlich den Fotoapparat herausgekramt hat, ist der Spaß schon vorbei …
„Niemandsland, niemands Klo“, witzele ich und bin dann froh, dass Männer ja – ganz egoistisch – etwas mehr Abstand vom Füllort halten können. Auf die paar Tropfen kommen es hier wirklich nicht mehr an.
Chrissie
Wir dürfen wieder mal ein Einreiseformular mit unseren sämtlichen Daten ausfüllen – in aller Ruhe. Der kinderreichen Großfamilie im Hintergrund geht es schlechter: Zollbeamte fleddern zwei riesige Koffer auseinander. Ich spüre plötzlich leichte Magenbewegungen. Darf ich eigentlich den Rum einführen, den ich mittig in meinen Rucksack gesteckt habe? Wird schon, denke ich, wir sind ja nicht im Iran.
Plötzlich stehen wir mitten in der Stadt an der Grenze. Das muss Gate 2 sein. Einer der Soldaten bemerkt unsere Ratlosigkeit. Wir erklären ihm die Lage. Er ruft einen jungen Tuk-Tuk-Fahrer herbei und gibt ihm den Auftrag, uns zu einem funktionierenden Automaten zu bringen. Der Bursche pariert, lässt sich aber nochmal von einem Ortskundigen erklären, wohin die Fahrt gehen soll. Wir landen – wieder bei der ersten Bank. Ich versuche, es dem Fahrer zu erklären. Er nickt und bedeutet mir, zum Schalter zu gehen. Okay, wenn es sein muss. Der dritte Angestellte, der gerufen wird, versteht mich. Er gibt mir den Tipp, dass ein paar Häuser weiter ein ATM sei. Unser Fahrer erhält Instruktionen. Wenige Minuten später steigen wir aus. Dreckiges Hinterhaus. Nix sieht nach Bank aus, aber ein kleines Schild weist auf die zweite Etage. Staubige Stufen, schmaler Durchgang. Jau. Da steht ein Geldautomat. Leider hinter einem verschlossenen Rollgitter. Ich bin genervt. Ob wir diesen Puff namens Moreh jemals verlassen können? Ohne Geld sicher nicht!
Nächstes Haus. Es sieht von oben aus wie ein Copyshop. Ich will zum Automaten. Ein Mann sagt mir: „Not working!“ Trotzdem schauen Reinhard und ich uns das Elend an. Der Mann hat nicht übertrieben. Der Bildschirm ist schwarz. Aus dem Stromkabel, das lose an der Wand hängt, baumeln einige lose Drähte. Reinhard und ich sehen uns an. Wo ist eigentlich die versteckte Kamera?
Ein Sicherheitsbeamter der Bankfiliale kommt mir entgegen. Zeigt mir noch einen unscheinbaren Kasten zwei Häuser weiter. Und endlich. Unvorstellbares Glück. Ich schaffe es, 20.000 Rupien abzuheben – so etwa 260 Euro. Der Tuk Tuk Fahrer kann ausgelöst werden. Wir geben ihm 100 Rupien und er küsst strahlend den Geldschein. War wohl ein guter Kurs. Auf jeden Fall bringt er uns freiwillig und ohne Aufpreis zu einem Simkarten-Shop. Eine Bretterbude. Der Mann versteht uns und nickt, zieht eine Schublade auf. Er hat eine Karte. Eine einzige.
Mann, Mann, denke ich und schaue mir das Teil an. Die Verpackung ist schon mal geöffnet worden, die Klebestreifen dunkelbraun vor Dreck. Ich warte ab, bis er die Simkarte herauslöst und betrachte skeptisch die unübersehbaren Schleifspuren.
„Ist die neu?“, frage ich, obwohl ich die Antwort kenne.
„Ja“, lügt er.
Wir sparen uns weitere Diskussionen und drehen ab. Der nächste Laden sieht professioneller aus. Mobile steht groß auf einem Schild. Vier Angestellte. Handyzubehör. Karten von verschiedenen Providern. Nach kurzer Beratung entscheide ich mich für airtel – die Simkarte soll in ganz Indien funktionieren. Ein drahtiger junger Typ legt die Karte ein, tippert an meinem Handy herum, reicht es mir. „Ready.“
Ich prüfe auch noch ein, zwei Sachen. Mobile Daten sind aktiviert. Dann teste ich. Kein Internetempfang.
Zwei junge Frauen und der Inhaber versuchen ihr Glück. Aber nichts klappt. Sie zeigen mir das airtel Symbol auf dem Handydisplay. „Working!“
“Äh, nein! Ich wollte eine Karte, mit der ich surfen kann.“
“Connection is low here.“
“Nein, hier ist gar keine Verbindung.“
Ich demonstriere einen erfolglosen Versuch eine Webseite aufzurufen. Endlich erbarmt sich ein Mitarbeiter und verschwindet hinter einem Vorhang. Was kommt nun? David Copperfield?
So ähnlich, der Typ scheint Ahnung zu haben. Er schnappt sich mein Handy, tippt Kolonnen aus Sternchen, Zahlen und Rauten. Leider lässt er mich nicht gucken, was er genau macht. Ich erhasche zwar einen Blick auf einige versteckte Menüs, aber als ich nachfrage, was er umstellt, zieht er nur die Schultern hoch. Kenne ich. Technikermagie. Keinen in die Karten blicken lassen. Das erhält den Status des Experten. Ich denke kurz an meine Kollegen und Kolleginnen in Essen und bin froh, dass die allesamt anders ticken. Am Ende kann ich endlich wieder mit meinem Handy surfen. Und das ist die Hauptsache.
Reinhard
Auf dem Rückweg suchen wir vergeblich eine Art Café, in dem man vielleicht einen Kaffee bekommt. An der Hauptstraße ist nichts – auf die Nebenstraßen haben wir keinen Bock mehr, dafür aber eine Staublunge. Hier macht nicht mal Rauchen Spaß. Und die Einwohner haben im Überlebenskampf keine Zeit für Pausen. Also zurück zum Hotel. Hier gibt es ein günstiges Abendessen, günstigen Kaffee – aber nach wie vor weder Wifi noch Bier.
10 thoughts on “Zu Fuß nach Indien”
LOL!!!
Ich musste soooo lachen, bei der Geschichte mit der SIM-Karte :-)))) Und ich konnte mir die Situation irgendwie ziemlich gut vorstellen. Was ich damals aus meiner Zeit in Indien mitgenommen hatte: was nicht passt, wird passend gemacht …
Schön, dass dir unsere Berichte gefallen! Wenn Chrissie unangenehmen Überraschungen wie eine schrottige Simcard verarbeitet hat, kann sie auch wieder lachen. Aber wehe, man macht vorher eine harmlose Bemerkung, die nicht richtig ankommt! 🙄 Doch du weißt ja: „Hinterm Horizont geht’s weiter!“
Ja, Ihr Lieben, die Heimat wartet auf Euch! Nach gut 7 Monaten Reisezeit werdet Ihr im Oktober den heimatlichen Sachsenring wieder erreichen! Das wird ein Wiedersehen! Wir freuen uns auf Euch! Sonnige Grüße aus Wattenscheid!
PS: Die Rückreise mit dem Zug ins Ruhrgebiet wird spannend! In einschlägigen Blogs haben wir schon entsprechende Reiseberichte gelesen!
Warme Worte, warmes Willkommen. Danke, Ihr Lieben!
Falls ihr einen guten Link habt in Sachen Zugreise für den Rückweg: immer gern her damit 🙂
Christiane und Reinhard on tour! Auf Eure Live Bilder- und Videoshow freuen wir uns schon jetzt! Klar, wir haben Verständnis dafür, dass wir uns in Bezug auf Eure Erlebnisse in Indien noch gedulden müssen! Wir warten gern darauf! Erholt Euch erstmal, bevor es mit dem Schreiben weitergeht! Immer wieder abenteuerlich, was Ihr alles auf Euch nehmt, um uns mit Infos zu versorgen! Danke, Ihr Lieben!
Schaut, ihr freut euch auf bewegte Bilder und wir freuen uns allmählich auf den näher rückenden Sachsenring. Auf ein baldiges Wiedersehen! 🎈
Sehr abenteuerlich, was Ihr da so erlebt! Bin neidisch!
Bin sicher, dass du nicht neidisch sein musst. Du hast doch auch nicht immer die ausgetretenen Pfade genommen. Und du planst doch bestimmt schon die nächste Tour! Meine Oma Mimi hätte über dich gesagt: „Die hat Hummeln im Hintern! In acht Wochen ist die wieder unterwegs!“
Um zu kontrollieren, in wie weit der kalte Entzug von Nikotin und Coffein bei Reinhard bereits Wirkung zeigt, haben wir einen Code vereinbart, eine Art Enigma für Arme. Kommt in einem seiner Berichte das Wort Kaffee, rauchen oder Nikotin vor, ist das normal, mehrfach ist bedenklich. In diesem Bericht mit etwas über 5000 Wörtern kommt es gleich 5 x vor. Muss ich mir Gedanken machen?
Dass Ihr mit Eurer Berichterstattung ins Hintertreffen geraten seid, tut mir leid. Ich biete mich als Ghostwriter an. Keine Angst, dies ist nur ein übler Scherz, so wie die Geschichte von Enigma. Euer Schreibstil ist nicht zu kopieren, er ist einmalig.
Und das ein Profi auch mal Hilfe in einem Telefon-Shop braucht, sorry, spiegelt Euch als das, was Ihr seid; menschlich. Erholt Euch!!
Manchmal fast unheimleich, wie unsere Texte gelesen werden! Mein Vater hat bei meinen Krimis immer nachgezählt, wie oft die Wörter „Arsch“ und „Scheiße“ auftauchen. Meine Ausrede, ich könne ja nichts dafür, dass meine Figuren so reden, ließ er nicht gelten. Und jetzt habe ich nicht mal mehr diese Ausrede …
Aber keine Sorge. Chrissie kontrolliert meinen Zigarettenverbrauch so penibel, als wäre sie als Finanzbeamtin ausgebildet worden. Ich werde die Tour überleben!