Xi‘an vs. Westeros
Reinhard:
Wer oder was Westeros ist? Nun, das ist der fiktive Kontinent, in dem die Serie „Game of Thrones“ spielt. Das historische Vorbild dafür kannst du dir in China angucken – in der Mitte des Landes bei der Stadt Xi ‚an. In diesem ehemaligen Königreich regierte einst – ähnlich wie Geoffrey Baratheon – der 13-jährige König Ying Zheng. Gnadenlos waren beide. In blutigen Feldzügen unterwarf König Ying sechs andere Königlande, äh, -reiche und ließ sich 221 vor unserer Zeit zum Kaiser von China krönen – unter dem Namen Qin Shihuangdi: Erster Erhabener Gottkaiser.
Was macht solch ein Kaiser, der sich für unsterblich hält? Richtig, er verfügt bereits als Teenager, dass er auch nach seinem Tod in Freuden weiterleben kann. Da reicht ein normales Grab für ihn, seine Diener und Konkubinen natürlich nicht aus. Dazu braucht es mehr. Um etwas Sicherheit und Privatsphäre zu genießen, bedarf es mindestens einer Division von Fußsoldaten, Armbrustschützen, Reitern und Streitwagenlenkern. Nichts einfacher als das.. Die kann man sich als Gottkaiser ja von seinen Untergebenen formen lassen: mit rund 8.000 lebensechten gebrannten Tonfiguren. Alle detailreich und in Farbe gestaltet. Zur Sicherheit versteckt man diese Terrakottaarmee in Gruben mit einem Holzdach und tarnt die Anlage mit einer dicken Schicht Lehm. Und damit keiner das Versteck verraten kann, werden die wichtigsten Kenner der Anlage mal eben lebendig begraben … safety first.
2200 Jahre vergehen. 1974 versuchen Reisbauern aus der Umgebung von Xi ‚an, einen Brunnen zu graben. Sie finden Reste von Tonfiguren und Waffen. Informieren die Denkmalschutzbehörde, die einige Archäologen hinzuzieht. Bald ahnen sie, was sich hier verbirgt – und sichern das Gelände in einem riesigen Umkreis. Ein neues Weltwunder ist entdeckt.
Ein warmer Frühlingsmorgen im Jahre 2019. Um acht sitzen Chrissie und ich in einem vollen Linienbus zu dem Museumspark, in dem man die Terrakottaarmee besichtigen kann. Dutzende Reisebusse sind schon vor uns da.
Ein Kaffee zur Stärkung, dann folgen wir den vielen Gruppen zum Ticketoffice und der üblichen Sicherheitskontrolle. Bei diesem Massenansturm haben die Beamten keine Zeit mehr, die einzelnen Besucher noch mit einem Detektor abzutasten. Statt dessen prüfen sie aber mit einem anderen Gerät die Wasserflaschen, die aus den Seitentaschen unserer Rucksäcke herausragen. Alles klar! Kein Nitroglyzerin.
In einem gewundenen Weg ziehen wir durch einen gepflegten Park.
Jeder Baum ist mit einem Täfelchen versehen, auf dem sein lateinischer Name steht. Ich kenne keinen davon – aber mein Vater hat als „Volksschüler“ 1927 als Gärtnerlehrling einige Hundert dieser Bezeichnungen auswendig lernen müssen.
Im Strom der anderen Touristen werden wir in Halle 1 gespült. Weit über 200 Meter lang, 70 Meter breit. Zum Glück haben die Erbauer nicht nur an den Regenschutz für die Tonfiguren, sondern auch an das Sichtfeld für die Neugierigen gedacht. Rundum führt in ausreichender Höhe ein breiter Gang, auf dem das Gedränge sich etwas lichtet.
Und da ist sie: keine Armee in militärischen Sinne, aber ein Aufmarsch von Bataillonen. Jede Figur ist etwas anders gestaltet. Nicht nur in Kleidung, Körperhaltung und Frisur – sondern auch die Gesichter sind den verschiedenen Volksgruppen ähnlich, die der Erhabene in sein Reich gezwungen hat. Einige Soldaten haben im Lauf der Zeiten eine Hand, ihre Waffe oder den Kopf verloren – aber die meisten sind intakt und scheinen auf uns zuzumarschieren. Wahnsinn!
Chrissie hat recherchiert: „Boah! An jeder Figur hat ein Meister mit seinen Gesellen ein halbes Jahr gearbeitet!“
Etwa 8000 Figuren sind bis jetzt freigelegt. Ich spare mir den Versuch, im Dreisatz hochzurechnen, wieviele Leute daran beteiligt gewesen sein müssen. Aber insgesamt haben an dieser Grabanlage 700.000 Menschen mitgewirkt – und weitere 300.000 haben gleichzeitig am Weiterbau der Großen Mauer mitgewirkt. Die hat der Gottkaiser nämlich auch in Auftrag gegeben. Ehemalige Soldaten, Gefangene, Sträflinge, in Ungnade gefallene Staatsbeamte. Ganze Landstriche mussten über Jahre ohne arbeitsfähige Männer auskommen. Die Reisernten fielen immer dünner aus – das Volk hungerte. Chrissie fragt mich, ob das Todschinden von Menschen Voraussetzung sei, um unsterblichen Ruhm zu erlangen. Ich zucke mit den Schultern, aber sie ist noch nicht fertig. „Nach diesem Maßstab wird der regierende Scheich von Katar für seine WM-Stadien noch die goldene Peitsche verliehen kriegen.“ (Wen es interessiert … https://www.welt.de/sport/fussball/article122000484/Amnesty-schockiert-ueber-WM-Sklavenarbeit-in-Katar.html)
Ich kann ihr da nicht widersprechen, aber sie ist schon wieder im vollen Kameraeinsatz. Chrissie kann sich an den marschierenden Soldaten gar nicht satt sehen – ich finde die beiden hinteren Teile der Halle interessanter. Immerhin hatte ich mit zehn ein zweiter Heinrich Schliemann werden wollen und musste deshalb neun Jahre Latein und fünf Jahre Griechisch lernen.
Also: In der Mitte der Halle werden einige Phasen des Ausgrabungsprozesses gezeigt. Lehmblöcke in unterschiedlichen Größen, deren Seiten schichtweise abgetragen werden. Und noch ein paar Schritte weiter sehe ich Archäologen bei der Kleinarbeit: Auf dem Boden liegen Dutzende Bruchstücke von Tonfiguren, die man mühsam freigelegt, registriert und vorsortiert hat.
Jetzt sitzen ein Mann und eine Frau vor Computern, scannen offenbar die Bruchstücke ein und versuchen, aus etlichen Teilen wieder eine Tier- oder eine menschliche Figur zusammenzusetzen.
Ich schaue mir fasziniert von oben an. Was für eine Knobelarbeit! Und bin froh, kein Archäologe geworden zu sein. Das Anstreichen von Fehlern in Klausuren ist im Gegensatz dazu ein Kinderspiel. Aber für Puzzles fehlen mir einfach Geduld und Geschick.
Gut drei Stunden später sind wir durch. Der Lärm, das Gedränge, die Hitze – irgendwann ist es gut. Aber wir sind uns einig, dass sich der Ausflug gelohnt hat.
Und wenn man sich keiner geführten Tour ausliefert, sondern einfach mit dem Linienbus hinausfährt, spart man sogar eine Menge Geld. Genau das wollen uns aber ein paar geschäftstüchtige Leute wieder abnehmen. Der Rückweg zum Bus führt nämlich durch eine Souvenir- und Futtermeile.
Den Andenkenständen gönnen wir höchstens einen kurzen Blick: Unsere Rucksäcke sind voll genug. Nur mit Erinnerungen im Gepäck reist es sich immer noch am leichtesten.
Wer jetzt glaubt, das wäre ein schöner Schlusssatz, irrt. Denn der Tag ist noch nicht vorbei. Wieder im Hotel, fällt mir beim Frischmachen erneut mein wild wuchernder Bart auf. Noch eine Woche, dann können darin Spatzen ein Nest bauen. Chrissie meint sogar, bald könne ich Catweazle doublen.
Das lasse ich nicht auf mir sitzen. Ich klettere runter zur Rezeption und erkläre mein Vorhaben. Ja, es gibt einen Frisör. Sogar in der selben Straße.
„Können Sie mir auf Chinesisch aufschreiben, was er machen soll?“
Die junge Frau nickt, holt Stift und Zettel und ich diktiere: „Oben auf dem Kopf: 2 Zentimeter. Hinten ganz kurz. An den Wangen auch. Rund um den Mund und am Kinn auch 2 Zentimeter.“
Die Angestellte schaut nochmal auf den Zettel und sagt: „Ich komme mit.“
Drei Minuten später betreten wir den Frisiersalon. Leer. Bis auf einen jungen Kerl, der lustlos von seinem Handy aufschaut. Er hört sich den Vortrag meiner Begleiterin an, schaut auf den Zettel und wehrt entsetzt ab.
„Er hat noch nie einen Bart geschnitten!“, erklärt sie.
Ich, mutig: „Wenn er Haare auf dem Kopf schneiden kann, dann kann er auch einen Bart schneiden!“
Er wehrt sich noch eine Weile, dann gibt er nach: „50 Yuan!“
Das sind gerade mal acht bis neun Euro. „Ja!“
Er holt seine Schneidemaschine, säbelt auf meinem Dach herum und hobelt meinen Hinterkopf. Sieht alles gut aus. Dann zeige ich ihm nochmal mit den Fingern, wo es um einen Kahlschlag geht und wo er nur kürzen soll.
Er nickt und glättet die Streifen unter den Koteletten. Auch gut. Die Kollegin aus dem Hotel geht. Der Barbier wider Willen sucht in seinem Werkzeugkasten nach einem Aufsatz. Ich zeige ihm nochmal mit den Händen, wie es gehen könnte: mit den Fingern die Haare an der richtigen Stelle einklemmen und alles, was übersteht, wegschneiden.
Der Typ nickt, überlegt, greift aber nicht zur Schere und zieht den Rasierer ein Mal direkt übers Kinn. Methode Kahlschlag. Schrecklich.
Was immer ich tun könnte, kommt jetzt zu spät. Mit Grummeln im Magen lasse ich den Rest der Prozedur über mich ergehen. Sehe im Spiegel einen Kerl, neben dem ich nicht mal auf dem Klo meiner Skykneipe pinkeln möchte.
Ich zahle, kaufe nebenan eine Stange Zigaretten, gehe zurück zum Hotel, halte die Fluppen quer vor meinen Mund. Die Damen hinter dem Tresen warten gespannt auf die Fortsetzung. Endlich traue ich mich. Als ich den Blick auf mein kahles Kinn freigebe, schreien sie entsetzt auf. Danke sehr.
Tapfer steige ich die Treppen hoch aufs Dach, wo Chrissie wartet. Nur gut, denke ich, dass sie nicht der Erhabene Gottkaiser ist. Der würde mir auch noch den Kopf absäbeln.
Beim nächsten Artikel wird es richtig spannend. Chrissie bringt sich in Gefahr. Auf dem Mount Hua Shan, wo es den gefährlichsten Wanderweg der Welt gibt.
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2 thoughts on “Xi‘an vs. Westeros”
Gestern Abend bei uns kurz vor’m Zubettgehen: „Lass uns schauen, ob unsere Rucksacktouristen etwas Neues zu berichten haben!“
Ja, richtig! Von Müdigkeit keine Spur mehr! Wir lesen, können nicht genug bekommen von all den Informationen!
Dein Schreibstil, lieber Reinhard, gefällt uns! Locker, mitreißend!
Was für eine Wahnsinnsidee des ersten Kaisers von China! Geheimnisvoll!
Was für ein Vermächtnis! Aber mussten es so viele Tonkrieger sein, die den Kaiser im Jenseits schützen sollten? Ein etwas beklemmendes Gefühl beim Anblick dieser Figuren kommt bei uns auf, wenn wir näher darüber nachdenken.
Kaum zu glauben, dass Reisbauern auf der Suche nach Wasser diese Grabanlage erst vor 45 Jahren entdeckt haben.
Im Vergleich dazu waren doch die Begegnungen mit dem hungrigen Chinesen im Zug und mit den Kindern für ein gemeinsames Foto richtig herzerfrischend!
Soviel geballte Geschichte und dann noch Dein „Bart ab-Erlebnis“, das müssen wir erst verarbeiten! 😉😉
Viele Grüße an Euch beide ins ferne China!
PS: Wohin geht Eure Reise nun weiter?
Ja, ihr Lieben, so ist das mit den Herrschern: Sie bekommen den Hals nicht voll. Egal, ob es um Paläste, Frauen, Reichtümer (die heißen heute, glaube ich, Aktien) geht. Der 1. Kaiser brauchte auch nach dem Tod so viele Soldaten, denn er hatte sich zu Lebzeiten genug Feinde angeschafft. Und einige von den Überlebenden hätten ihm wohl noch gerne aufs Grab gepinkelt. – Inzwischen sind wir auf Borneo, stricken aber noch fleißig an den letzten China-Geschichten. Bleibt fit!