Auf dem Rücken des Drachen
Reinhard
Nein, wir kommentieren hier nicht die achte Staffel von „Game of Thrones“. Auch wenn die uns selbst in China mit Amazons Hilfe um einige Stunden Schlaf gebracht hat. Die Rede ist von einem teilweise restaurierten Abschnitt der Großen Mauer, die China einst vor den Angriffen der Reiterarmeen des Dshingis Khan schützen sollte. Klettern war angesagt – mal wieder. Aber diesmal habe ich nicht ein einziges Mal gemurrt.
Ursprünglich haben wir davon geträumt, eine Nacht auf einem der steinernen Türme zu verbringen – die romantische Sternenübernachtung in Jordanien ist uns gut in Erinnerung geblieben. Für uns war klar: Chinas Himmelszelt müssen wir uns auf der Mauer ansehen.
Plan 1: Harte Kante
Ohne viel Gepäck los, irgendwo auf einem der nicht restaurierten Türme hinhauen. Sonnenuntergang, ein Schluck Wein im letzten Licht des Tages, Augen zu, wenn die Sterne leuchten. Doch bei Licht betrachtet sieht das alles nicht mehr so einfach aus.
Man soll möglichst früh vor Ort sein, lesen wir. Die nahe Beijing gelegenen Strecken seien hoffnungslos überfüllt. Einige Abschnitte seien nur für geübte Wanderer bzw. Kletterer geeignet. Mein Blick wandert in Richtung meiner stark gebeutelten Füße. Die sehen aktuell zwar fast aus wie Hufe, denn im Iran haben wir unseren Bimsstein verloren und in ganz China scheint ein solches Pflegeutensil leider gänzlich unbekannt zu sein!. Leider arbeiten meine Beine nicht so zuverlässig wie die einer Bergziege.
Hinzu kommt: Weder unsere Jäckchen noch die 60g schweren Hüttenschlafsäcke sind für ein Camping auf Steinen gemacht. Ich melde endlich meine Skepsis an. „Wenn wir das machen, kannst du direkt einen Masseur vorbuchen. Ich weiß nicht, Chrissie… sollen wir uns das wirklich antun?“
Ich atme auf, als sie endlich den Kopf schüttelt. „Okay, ich organisier uns eine Tour.“
Leider ist das bei weitem nicht so einfach wie gedacht. Wir lesen, dass das Übernachten verboten ist. Einige Unternehmen bieten dennoch Touren an. Aber die Preise sind so hoch, dass wir genauso gut mal eben auf einen Kaffee nach Hause fliegen könnten.
Okay, Plan 2: All inc. Paket ohne Übernachtung
Es wird nicht einfacher. Denn wir müssen nun festlegen, wo es langgehen soll. Chrissie will unbedingt nach Jinshanling. 2,5 Stunden Autofahrt entfernt. Mir wären die gut restaurierten und seniorengerechten Abschnitte bei Gubeikou und Badaling lieber.
„Nee“, sagt Chrissie, „bloß nicht! Die sind total überlaufen.“
Ich wiederum protestiere, weil ich einen Spiegelartikel gelesen habe. Da heißt es: „Nach einem gemächlichen Auftakt zeigt sich die Mauer hier als Achterbahn ohne TÜV-Zulassung: Steile Treppen geht es hinauf und wieder hinunter, mal sind nur Stufen weggebrochen, mal scheint ein Erdrutsch die halbe Mauer mit sich gerissen zu haben.“ (Quelle: Max-Morten Borgmann, https://www.spiegel.de/reise/fernweh/china-fuer-fruehaufsteher-allein-auf-der-grossen-mauer-a-696892.html)
„Willst du mich umbringen?“, frage ich meine Holde nur halb im Spaß. „Auf keinen Fall Jinshanling!“
Sie winkt ab und am nächsten Morgen werden wir um halb sieben abgeholt. Ein Guide und ein Fahrer warten draußen auf uns. Wie fast alle Chinesen Anfang 30 sieht er aus wie Anfang 20. Li ist schlank, trägt Brille, Typ Klassenprimus. Raus aus der Stadt, bevor der Berufsverkehr einsetzt! Die sieben Ringe um Beijing sind schnell verlassen. Wir kommen gut durch. Nur 135 Minuten später haben wir unser Ziel erreicht. Ich bin ausgeruht und wappne mich für das, was nun kommt. Denn es geht nach: Jinshanling.
Chrissie
Für alle, die sich jetzt fragen, ob ich wirklich Mordabsichten in mir trage. Die Antworten lautet „Nein“ 😇 Das Wichtigste ist, dass wir gemeinsam etwas erleben und dass ich mit Rucksack UND Rentner zurückkehre – und zwar gesund. Wenn auf dem ersten Blick keine Lösung in Sicht ist, dann guckt man eben genauer hin.
Unsere Privattour kann man nicht wirklich als Schnäppchen des Tages bezeichnen. Knapp über 300 Euro kostet uns dieser Tagesausflug. Aber immerhin können wir bestimmen, wo es langgeht und wie schnell. Neben der Fahrt und dem Guide sind auch alle Eintrittsgelder und unsere Mittagsessen („ja, vegan geht auch!“) im Restaurant inklusive. Guide Li weiß genau, wie unsere Anforderungen aussehen. Er kennt sowohl Reinhards Alter und Fitnesslevel als auch meine Vorstellungen einer gelungenen Mauerwanderung. Und er hat einen guten Kompromiss gefunden. „Wir steigen kurz hinter dem Flower Tower auf. Zum Klettern lassen wir den aus. Zu rutschig, und für Reinhard zu schwierig, denke ich. Ihr könnt ihn euch vom nächsten Turm aus ansehen. Dann wandern wir ca. 3-4 Stunden erst über einen nicht restaurierten, dann über einen wiederaufgebauten Teil. Die Strecke ist sehr fotogen.“
Klingt gut. Wir sind beide einverstanden. 🙂
Reinhard
Der Eingangsbereich zu diesem Mauerabschnitt sieht aus, als führe er zu einem Luftkurort. Hier sind nur wenige Wanderer angereist. Unter ihnen fällt mir ein junges Ehepaar auf. Auf dem Buckel schleppen sie pralle Rucksäcke mit mindesten 65l Fassungsvermögen. Und vorn in einem Tragegestell schläft jeweils ein etwa einjähriger Zwilling.
“Ihr seid ja mutig!“, spreche ich sie an.
“Ach, wir gucken einfach mal. Wenn es nicht geht, dann geht es nicht.“
Na, hoffentlich fällt denen das ein, bevor sie auf der „Achterbahn ohne TÜV-Zulassung“ stehen, denke ich.
Der Aufstieg zu dem Wachtturm, an dem unsere Tour beginnt, ist anfangs noch ein wunderbar glatter Weg, der sanft in die Höhe führt.
Es folgen neu angelegte Treppen, die immer steiler werden. Kaum vorstellbar, dass irgendein Heerführer versucht haben könnte, seine mit Waffen beladenen Kämpfer ausgerechnet hier hoch zu scheuchen. Denn der Mauerkamm ist vier, sechs oder noch mehr Meter hoch. Und die Verteidiger warfen nicht mit Wattebäuschchen. Soviel steht mal fest.
Ich schaue mich um. Bewaldete Steilhänge, Blumen am Wegrand – und jede Menge Hinweisschilder auf das korrekte Verhalten der Wanderer: Nicht rauchen, keinen Abfall wegwerfen und: „Bringt nur die Erinnerung wieder mit.“
Was denn sonst?, frage ich mich. Welcher Kunstliebhaber will wohl einen der mindestens 50 Kilo schweren Originalsteine mit nach Hause schleppen?
Die Schilder reichen wohl nicht. Für die Analphabeten steht alle 100 Meter ein Laternenmast mit Lautsprechern am Wegrand. Per Bewegungsmelder schalten sich die Bänder mit den entsprechenden Hinweisen ein – und per Kamera können die Wachen am Eingang der Anlage kontrollieren, ob sich dieser bärtige Tourist aus Europa doch noch schnell eine Fluppe gönnt.
„Nein, das ist nur zur Sicherheit“, dementiert Li. Falls mal ein Wanderer zusammenbricht und Hilfe braucht. Klar, und der „große Bruder“ liebt uns alle, denke ich, spreche den Gedanken aber nicht aus. Könnte ich auch gar nicht. Denn Chrissie und Li legen ein Tempo vor, das es mir zwar erlaubt zu atmen, nicht aber zu sprechen. Als wir eine halbe Stunde oben ankommen, bin ich froh, dass ich nur zwei kleine Pausen gebraucht habe – vor zwei Monaten noch undenkbar. Was ein paar Kilo Gewicht weniger doch ausmachen!
Oben wartet der Mauerabschnitt „Der sich windende Drache“ auf uns – der geilste Anblick der ganzen bisherigen Reise. Ich halte den Atem an. Dass ich hier stehen und das sehen kann – das ist ganz groß.
Wir stehen und staunen. Ich weiß, dass wir nicht die ersten Menschen auf diesem Mauerabschnitt sind. Und trotzdem glaube ich nun zu wissen, wie sich Gagarin gefühlt haben muss, als er die Erde aus der Umlaufbahn in seiner Sojus-Kapsel betrachtet hat. Unendliche Weiten. Ehrfurcht. Später lese ich, dass vermutlich bis zu 1.000.000 Menschen allein beim Bau der Mauer innerhalb der Qin-Dynastie gestorben sind. Ob für den WM-Umbau in Katar auch Strichlisten geführt werden?
Aber davon weiß ich im Moment, als ich oben stehe, nichts. Ich versuche gar nicht erst, meine Gefühle näher zu beschreiben. Manchmal fehlen selbst einem alten Schreiber wie mir die Worte. Guckt euch lieber Chrissies Fotos an!
Nach gut drei Stunden voller unglaublicher Panoramen erreichen wir einen Turm mit einer geräumigen Plattform. Andenkenstände, Erfrischungen, ein paar Sitzbänke im Schatten – und keine sichtbaren Kameras. Völlig klar, was ich mir zur Belohnung nach dem Frühsport gönne …
Die Strafe für diesen Regelverstoß erwartet mich unten. Nein, es ist nicht der lange Arm des Gesetzes, der mir ins Gesicht schlägt. Für das, was folgt, braucht es keinen Polizisten. Etwas Dummheit reicht.
Als wir wieder am Ausgangspunkt der Wanderung angekommen sind, fühle ich mich zwar glücklich, aber auch abgekämpft, hungrig, durstig – und voller Sehnsucht nach einem sauberem Klo. Kurz vor dem Ausgang gibt es eine moderne Toilettenanlage. Zur Straße hin hohe Fenster und Glastüren, die selbst ein Meister Proper übersehen könnte. So sauber geputzt simd die. Aber ich bin kein Meister Proper. Nur ein eiliger Gast, der vor dem Mittagessen gern noch eine zweite Zigarette rauchen würde. Gut, dass man dafür keine Nase braucht.
9 thoughts on “Auf dem Rücken des Drachen”
Lieber Reinhard,
sind Gesichtskorrekturen (ich vermeide das Wort Schönheit) denn preislich in China so viel günstiger zu haben?! Ich habe allerdings schon von sensibleren Methoden gehört. Wie auch immer, den Prozess kannst du gar nicht verlieren.
Zum Glück im Unglück brauchst du die Nase nicht zum klettern und nicht dazu, die wundervollen Bilder aufzunehmen und abzuspeichern. Und, ihr habt recht, diese Mauer muss nicht weg. Noch viele weitere schöne Erlebnisse, wenig Stufen und viel Erfolg dabei, Meister Propper immer einen Schritt voraus zu sein.
快點好起來
Kuài diǎn hǎo qǐlái
Lieber Manfred,
Nachtrag: Deine witzigen Kommentare gefallen uns beiden ausnehmend gut. Wie wär’s, wenn du mal ein paar Anekdoten aus deinem Berufsleben aufschriebest? Bin sicher, du fändest dafür einen Verleger!
Lieber Manfred,
die Nase ist wieder heil. Viel schlimmer ist mein Fehler von gestern, den Chrissie leider schon (s.u.) verraten hat. Obwohl ein Mädel aus der Reception meine Anweisungen (Bart auf maxi 2 cm kürzen) genau übersetzte, war das Ergebnis katastrophal. Chrissie hat nun tatsächlich für die nächsten vier Tage striktes Verbot, mich von vorn oder von der Seite zu knipsen. – Ich freue mich schon auf deinen nächsten Kommentar.
Liebe Wanderer,
Frühstück mit Life-Berichterstattung und Fotos von Eurer Tour zur Chinesischen Mauer, damit hat unser Tag begonnen! 😉
Gigantisch – dieses Bauwerk und der Ausblick!
Vernünftig, dass Ihr Euch für diese Privattour mit Guide entschieden habt.
Wir sehen Euch auf den Fotos froh gelaunt; was für ein großartiges Erlebnis!
Eure Anstrengung hat sich gelohnt, auch, wenn der Traum, eine Nacht auf einem Mauerturm zu verbringen, nicht in Erfüllung gegangen ist.
Weiterhin viel Spaß, gutes Gelingen bei all Euren Aktivitäten!
Liebe Daheimgebliebene,
bei den nächsten Aktivitäten (morgen Terrakotta-Armee) darf ich keine Fotos von Reinhard machen. Da müsst ihr am Frühstückstisch mit steinernen Figuren vorlieb nehmen. Er ist allein zum Friseur gegangen, um sich den Bart ein wenig stutzen zu lassen. Himmel hilf! Wenigstens haben sie die Augenbrauen drangelassen 😳
Liebe Grüße von uns beiden!
Übermüdet oder unterzuckert?
Egal. Aber endlich ist der Groschen gefallen: Reinhard + Schmacht + fast unsichtbare Glastüre + Foto mit Reinhards angemackter Nase = Gute Besserung!
Haha, wahrscheinlich beides 😉
Hat sich damit deine Bitte aus dem ersten Kommentar erledigt? Ich hatte mich schon gefragt, was genau du meinst …
Ja, die hat sich natürlich erledigt!
Viel Spaß noch!
Als Entlastung für die Nase nehmt ihr bei der nächsten Reise nach China wohl besser ein paar Duftbäume mit: klein, flach und SEHR leicht!
Erzählt ihr den Rest dieses Ausflugs beim nächsten mal?
(Bitte, Bitte, Bitte…)