Bundesliga am Tor des Himmlischen Friedens?
Reinhard:
Stellt euch mal Folgendes vor: Der Deutsche Fußballbund will die laufende Saison mit einem Kracher beenden. Die letzten 18 Spiele der 1. und 2. Bundesliga sollen nicht nur gleichzeitig angepfiffen werden, sondern sogar auf ein und demselben Platz. Geht nicht? Doch. Nicht in Deutschland – aber in Beijing. Auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens. Etwas mehr Kreide für die Seitenlinien und die Strafräume und ein paar Kilometer Drahtzaun, damit die Pässe der Schalker nicht beim VfL Bochum landen – fertig ist die Laube.
Spinnerei? Klar. Rein technisch und organisatorisch würde China sogar das noch auf die Reihe kriegen. Aber der Tienanmen-Platz ist nicht nur einfach der größte befestigte Platz der Welt. Sondern Chinas Herz und Heiligtum.
Das merkt man spätestens, wenn man – wie wir – zum ersten Mal hier aufläuft. An den vier Seiten des Platzes liegen mehrere Museen und Ministerien, die Große Halle des Volkes (Chinas Parlament), das Mausoleum mit dem Leichnam des Revolutionsführers Mao Zedong – und der Eingang zur einst Verbotenen Stadt, wo fast zwei Jahrtausende lang Chinas Herrscher residierten. Und mittendrin ist immer noch Platz für 18 Fußballfelder – und Hunderte, Tausende, nein: Zehntausende von Menschen, die schon am frühen Morgen angereist sind, um Mao zu sehen oder die Kaiserpaläste zu besichtigen.
Voll ist der Platz damit noch lange nicht, aber ich komme mir doch etwas verloren vor.
„Wie kommen wir denn noch da rein?“, frage ich ratlos. Hunderte Besuchergruppen strömen auf das Tor zu. Die einen folgen den grünen, gelben oder orangefarbenen Fähnchen ihrer Guides, andere tragen die gleichen Trikots oder werden von Megafonbesitzern dirigiert. Die Sonne gleißt. Und Chrissie hat zu allem Überfluss ihren Indiana-Johns-Hut im Hotel vergessen, an dem ich sie im Gedränge wiederfinden könnte.
„Folgen wir den Massen!“, neckt mich Chrissie. „Machen wir am 1. Mai und beim Ostermarsch doch auch immer!“
Die Wege, die wir gehen sollen, sind klar abgesteckt. Dass niemand sie verlässt, darauf achtet ein großes Aufgebot an Polizeiposten und Ehrenwachen der Armee, die bis zur Ablösung eine Stunde lang reglos in der Sonne stehen müssen.
NUnd über allem prangt ein riesiges Porträt von Revolutionsführer Mao-Zedong, der mit seiner Bauernarmee den von den USA finanzierten „weißen“ General Tschiang Kai Tschek vertrieben und die Volksrepublik China gegründet hat.
Also folgen wir den Massen und stoßen bald auf das erste Hindernis: die Ticketkontrolle. Während die chinesischen Besucher Kennkarten vorzeigen, reicht unser Pass noch nicht aus. Wir werden ein Stück zurückgeschickt, zu einem Schalter am Rande des Zugangsweges. Hier scannen eifrige Mitarbeiterinnen unsere Pässe, Chrissie zahlt 2×45 Yuan und wartet auf die Eintrittskarten.
„Brauchen Sie nicht“, erfahren wir. „Zeigen Sie Ihre Pässe. Die Nummern sind jetzt gespeichert – und die Kollegen können sehen, dass Sie bezahlt haben.“
Ich muss schlucken. „They will not controle us!“, lautet der Refrain in einem der schönsten Songs von Chrissies Lieblingsband „Muse“. Der Text des Liedes ist längst überholt. Die Chinesen machen mit der elektronischen Kontrolle den Amis inzwischen vor, wie man dieses Projekt perfektioniert. Uns wundert nur, dass das Bargeld hier noch nicht völlig abgeschafft wurde. Auch „unsere“ Geheimdienste werden aufpassen müssen, dass sie nicht den Anschluss verlieren …
Aber hier geht es jetzt voran. Immer schönere Tordurchgänge, jeder einem Tempel gleich, führt immer tiefer in das Innere der Verbotenen Stadt. 900 Gebäude soll es hier geben.
Die Herrscher, ihre Generäle, die führenden Staatsbeamten, Wachen, Köche und Konkubinen – sie alle brauchten ein Dach über dem Kopf. Wenn die alten Kaiser ihr Reich besichtigten, machten sich gleich 10.000 Leute auf den Weg, die in den Provinzen den Handwerkern und Bauern den letzten Reis wegfraßen.
Tor um Tor marschieren die Besucherströme weiter. Wann immer eine Besuchertruppe auf ein neues Bauwerk stößt, recken sich die Hände mit den Mobiltelefonen in die Höhe, um jede Menge Fotos zu schießen.
„Guck mal!“, raune ich. „So ähnlich gehen die Hälse in einem Spatzennest hoch, wenn die Alten mit einem Wurm kommen.“
„Merk dir den Vergleich!“, meint Chrissie und ich weiß mal wieder nicht, ob diese Forderung ernst gemeint ist.
Überhaupt: Je länger wir hier unterwegs sind, desto mehr schwächelt unsere Begeisterung für diese Kunstwerke. In diesem Getümmel kann man kaum etwas richtig auf sich wirken lassen. Das Uhrenmuseum zum Beispiel ist in einem langen, dunklen, schlauchartigen Gebäude untergebracht. Stickige Luft, alles drängt sich. Selbst eine dicht umlagerte metallene Uhr, anhand derer man Planetenumlaufbahnen studieren kann, reizt mich – im Gegensatz zu Chrissie – nicht zum längeren Verweilen. Ich bin froh, als ich wieder im Hellen stehe …
Mehr und mehr haben wir den Eindruck, hier nur ein Pflichtprogramm zu absolvieren. Keiner soll sagen können: „Was, ihr wart in Peking und habt die Verbotene Stadt nicht besucht? Weswegen wart ihr überhaupt da?“
Am Ende sind wir froh, wieder auf einer normalen Straße zu stehen. Die ersten Besuchergruppen werden wieder zu ihren Bussen dirigiert. Und morgen beginnt alles wieder von vorn.
Klar, denke ich, so viele Leute kann man nicht ungesteuert auf die Verbotene Stadt loslasssen. Dieses wahnsinnige Kulturdenkmal sähe nach einer Woche aus wie eine Mondlandschaft. Aber wenn ihnen einer sagt, wo und wie es weitergeht, dann marschieren „die Chinesen“. Selbst die Rentner spucken ihren COPD-Auswurf hier nicht einfach auf den Boden, sondern brav in einen der vielen Abfallkörbe. Und falls ihr hier stutzt – dies ist wirklich ein Vorurteil, das sich bestätigt hat. Die Chinesen rotzen immer und überall. Sie ziehen den Auswurf geräuschvoll aus der siebten Sohle und spucken. Dabei ist es völlig egal, ob sie gerade stehen, laufen oder neben ihren Freunden stehen, die gerade essen oder einen Imbiss einnehmen. Selbst mein Pferdemagen dreht sich dabei gelegentlich.
Später streunen wir durch die autofreie blitzsaubere Innenstadt. Wangfujing heißt die Einkaufsstraße für die Reichen und Schönen. Victorias Secret sagt hier Rolex guten Tag.
Wir suchen weder überteuerte Unterwäsche mit goldenen Flügeln noch Uhren, von deren Wert wir im Iran mehrere Jahre leben könnten. Wir suchen lediglich verzweifelt nach einem Café, vor dem ein paar Tische und Stühle auf den Bürgersteig stehen. Genug Platz wäre da und genügend Kundschaft auch: Zahlreiche Männer und Frauen verbringen ihre lange Nachmittagspause, in dem sie auf einigen der wenigen Holzbänke oder einfach auf den Treppenstufen vor den Geschäften oder Bürotürmen hocken. Aber wir finden kein Café. Gemütlichkeit geht anders.
Leicht verstimmt treten wir den Rückweg zum Hotel an – vorbei an den zahlreichen Polizeiposten, die sich an den Straßenecken langweilen. Als als Chrissie mir verrät, wieviele Kilometer noch vor uns liegen, kennt sie meine Reaktion, ohne mich anzusehen: „Verdrehe jetzt bloß nicht deine Augen. Denk an Havanna!“
Toll, da sind wir täglich acht Kilometer „nach Hause“ gelaufen, weil wir uns von den Taxifahrern nicht abzocken lassen wollten. Und Chrissie gab zur Aufmunterung alle 200 Meter die Reststrecke an, die ihre Navi berechnete. Jede unterschrittene Kilometergrenze haben wir damals ausgefeiert.
„Außerdem legen wir noch einen Zwischenstopp ein. Auf dem Weg liegt noch ein veganer Laden, den ich bei „Happy Cow“ (Anm.: eine App, um Veganer und Vegetarier-freundliche Lokale und Läden zu finden) gefunden habe. Da will ich mal gucken.“
Auch das noch, denke ich. Chrissies Ziele bieten manchmal die unangenehmsten Überraschungen. So auch gestern. Der Himmelspark in der Nähe unseres Hotels. Ein riesiges Areal, vollgestopft mit Kultur und Geschichte. Auch eines der „must have seens“. Aber totales Rauschverbot! Ich rede nicht von Reisschnaps oder Opiumpfeifen. Nicht mal ein harmloses Zigarettechen ist erlaubt, Nach einer Stunde bin ich gegangen, weil ich es zu langweilig fand, die 60.000 Zypressen oder die Stiefmütterchen zu zählen.
Stattdessen habe ich mir bei Starbucks für 10 € Kaffee und Kuchen besorgt und mich in die Sonne gesetzt, während Chrissie sich die Hacken wundgelaufen hat. Da ging es mir gut. Und jetzt?
„Komm schon!“, drängelt sie.
Na gut, denke ich. Irgendwie werde ich auch das überleben. Was ich nicht ahne: Vor mir liegt die schönste Überraschung des Tages. Und am Ende musste ich mir etwas eingestehen, das ich nie für möglich gehalten hätte. Aber das Geheimnis behalten wir noch ein wenig für uns.
6 thoughts on “Bundesliga am Tor des Himmlischen Friedens?”
Amüsiere mich immer noch köstlich! Klar, man sieht nur dass, worüber man sich informiert hat. Ich kann es leider auch nicht lassen, Fehlinformationen zu korrigieren. Vor 2.000 Jahren war Peking noch ziemlich unbedeutend. Die chinesischen Kaiser regierten damals in Xi’an. Die Verbotene Stadt in Peking wurde von 1406 bis 1420 erbaut.
Auf zu Eurer nächsten Station!
Vielen Dank für die Info! Gern mehr davon, wenn dir was auffällt.
1.) Morgen und übermorgen nochmals in die „verbotene Stadt“. Pass reicht..
2.) Bisschen Kuchen ohne Sahne plus Kaffee aus diesem üblen Kapitalistenladen.
Ein dunkler Fleck!
Ihr macht so viele Meter. Lasst euer Gewicht vor dem nächsten Flug neu justieren. Könnte Geld sparen.
Aber super. Hippkrates sagte einst: “ Gehen ist für den Menschen wie Medizin.“
Lieb gegrüsst und achtet auf Füsse und Schuhwerk!! Bis die Tage….
P.s.: Der Spieltag läuft noch. In verschiedenen Städten…
Lieber Herbert,
das wäre mal was. Kerosinsteuer aufs eigene Gewicht. Damit wären wir gemeinsam schon bei 5kg Last weniger. Und solange Besuche bei dem kapitalistischen Ausbeuterbetrieben die Ausnahme bleiben, sollte es mit dem Halten der Leibesfülle funktionieren. Über Fußball reden wir heute besser nicht mehr. Das verstimmt einen gewissen Reisepartner zu sehr. 😉
Liebe Grüße!
Hallo, Ihr beiden!
Die Fülle an Pekings Sehenswürdigkeiten ist überwältigend!
Die Größe der Stadt mit den Highlights und den touristischen Menschenmassen ist für uns wahrscheinlich nicht vorstellbar!
Wir hoffen, dass Eure Erwartungen erfüllt, vielleicht sogar übertroffen worden sind mit dem Fazit „Peking muss man einmal im Leben gesehen haben!“
Mittlerweile habt Ihr Euer nächstes Ziel erreicht; wir bleiben dabei und wünschen Euch weiterhin viele unvergessliche Eindrücke, Begegnungen und immer einen Schutzengel an Eurer Seite!
Wir sind gespannt, was Euch in Tianjin und beim Couchsurfing erwartet, vielleicht ist heute Abend ein gemeinsamer Fußballabend im TV angesagt! 😉⚽️
Viele Grüße nach Tianjin!
Ihr Lieben,
Peking war nett, aber Tianjin gefällt uns besser. Warum das so ist, werdet ihr in ein paar Tagen nachlesen können. Und allmählich zeichnet sich auch der weitere Tourverlauf ab. Von hier geht es nach Luoyang, von Luoyang nach Xi‘an und dann nähern wir uns meinem Traum … der „Wanderweg“ auf dem Ber Hua Shan. Mit dem Fußball hat es leider mal wieder nicht geklappt. Aber das Ärgern über die Ergebnisse klappt auch ohne TV ganz gut 😅