Wadi Dana Trail – 14km hin und 115km zurück
Aufstehen um 07:00 – Ausschlafen geht anders.
Nach den 800 Stufen von Petra steht heute eine neue Herausforderung bevor. Wir wollen den Wadi Dana Trail bewältigen. Eine 14 Kilometer lange Stolperstrecke durch ein wildes Tal mit kargen steilen Felswänden und einer Höhendifferenz von über 1000 Metern. Und, wie sich später zeigt, ohne einen Kiosk mit Wasser oder Tee …
Schon das Aufstehen und der Weg zum Frühstück bringen die ersten Misstöne. Das Dana Tower Hotel besteht aus mehreren kleinen Häusern, die aus groben Bruchsteinen gefügt sind. Unser Zimmer liegt an einer schulterbreiten Gasse und ist nur auf den ersten Blick schön.
Handwerklicher Pfusch, wohin man blickt. Sobald sich die eiserne Eingangstür öffnet, flehen die verbogenen Angeln kreischend nach einem Tropfen Öl. Mein Weg zur ersten Zigarette des Tages wird so zum Weckruf für das halbe Hotel.
Das Frühstück absolvieren wir ohne Begeisterung. Ein paar Gurken, Tomaten, Erdbeermarmelade, Fladenbrot, etwas Kaffee, der wie Tee schmeckt – und das alles für vier Dinar (etwa 5 €). Kein Vergleich zu dem freundlichen Service in unserem schlichten Hostel in Wadi Mousa …
Eigentlich wollen, nein: sollen wir um neun zu unserem Gewaltmarsch starten. Aber Chrissie verschafft mir noch eine Gnadenfrist. Wild entschlossen, für den nächsten Tag eine freundlichere Unterkunft zu suchen, läuft sie zu dem Touristikbüro im Dana Guest House. Dort gibt es nämlich ein funktionierendes Wifi.
Um kurz vor elf geht es dann wirklich los. Zwei Liter Wasser im Gepäck, dazu noch Nüsschen, Kekse und Obst. Da es noch verdammt kühl ist, tragen wir beide den berühmten Zwiebellook – die nächste Eiszeit kann kommen.
Der erste Blick ins Tal. Eine grausam-schöne Landschaft. Und während Chrissie vor Entzückung juchzt, blicke ich seufzend auf zwei oder drei Dutzend Serpentinen hinab. Statt 800 Stufen drohen mir nun 800.000 Steine aller Größen. Das wird in die Knochen gehen. Und was wird erst, wenn unser Zielpunkt auch oben in den Bergen liegt? Nicht auszudenken.
Vorerst geht es bergab. Schrittchen für Schrittchen. Allein für den Weg zur Talsohle brauchen wir über eine Stunde. Die Spannungen in den Oberschenkeln sind stärker als beim Klettern vor zwei Tagen. Und die wahre Lust am Wandern stellt sich noch nicht ein …
Pause, die Augen wandern lassen. Geile Bilder, die für alles entschädigen. Vögel mit hellroten Flügen, lustige schwarze Glitzerkäfer, Grilllen – und nach zwei weiteren Stunden gluckert von links das erste Bächlein ins Tal, begleitet von einem Streifen grüner Büsche und mit winzigen Kaulquappen im Wasser.
Völlig überraschend ruft ein Kuckuck von oben herab. Als ich Kind war, zählten die Erwachsenen immer mit: Wie viele Jahre lebe ich noch? Wir testen den Wahrsager. 23 Rufe für Chrissie, 16 für mich. Blöder Vogel!
Weiter geht’s. Die Sonne brennt, die Zwiebelschalen fallen. Zuerst binden wir uns die Steppjacken um die Hüften, danach die Fleecejacken. Später heißt es: Ärmel aufkrempeln. Und dann kommt die Stunde der Erkenntnis: Die langen Unterhosen müssen auch noch geopfert werden. Aber hier? Immer wieder kommen uns Wanderer entgegen und von hinten ziehen die ganz flotten Typen ans uns vorbei.
Chrissie blickt nach vorn und zurück, sagt dann: „Ich riskiere es!“ Sie verschwindet hinter einem der wenigen Bäume und ich halte Wache. Endlich taucht sie wieder auf – Erleichterung im Gesicht. „Mach!“
Noch ein paar Blicke in alle Richtungen, dann traue ich mich auch und lege meinen Strip direkt am Wegrand hin. Schuhe aus, Cargohose aus. Die lange Unterhose klammert sich viel zu lange an den Socken fest. Komm schon, du Miststück! Anschließend geht es uns beiden besser.
Die Strecke zieht sich und langsam geht uns das Trinkwasser aus. Zwei Liter für uns beide sind doch zu wenig. Schließlich
plätschert uns wieder ein Bach über den Weg. Chrissie bückt sich, schöpft mit beiden Händen etwas von dem klaren Wasser und trinkt.
„Schmeckt toll! Willst du auch?“
Noch zögere ich. Aber einen halben Kilometer weiter ist auch mein Durst stärker als alle Warnungen. Immerhin sind wir gegen so ziemlich alles geimpft, was uns töten könnte.
Vier Uhr vorbei. Der Weg führt immer wieder quer über das fast trockene Flussbett, ein Stück hinauf und wieder herunter. Was tun? Weiter dem etwas schwereren Weg folgen, den uns die Navi zeigt – oder kürzen wir ganz unsportlich auf dem Bachgrund ab? Wir bleiben auf der Stolperstrecke.
Allmählich laufe ich wie in Trance. Will nur noch ankommen. Chrissie ist noch fit genug, um sich einer Schafherde zu nähern und ein weißes Lämmlein zu streicheln. Zeitvergeudung, denke ich.
Wenige Kilometer vor dem Ziel stehen unten drei Beduinen neben einem Pickup und einem kleinen Feuer. Nach einem gegenseitigen Hallo laden sie uns ein: „Do you like tea? Come down!“
Ich habe keine Lust mehr auf eine längere Pause und Chrissie zeigt auf mich: „This one is seventy two – too old to climb!“
Meinen Kommentar schluckte ich herunter. Chrissie hatte die einzige Erklärung geliefert, die nicht unhöflich wirkt.
Noch 2000 Meter. Ein Strom von Ziegen zieht meckernd von den Bergen herunter zu einem Beduinenlager. Zwischen den geflickten Zelten laufen Kinder und Tiere durcheinander. Wir finden eine Wasserleitung, an der wir unsere Flaschen füllen. Chrissie hat sogar noch Lust und Kraft, mit einem weißen Zicklein zu spielen, aber ich will nur noch eins: ankommen. Und zwar vor Sonnenuntergang.
Um kurz nach fünf erreichen wir endlich unser Ziel und es liegt freundlicher Weise unten im Tal: die Feynan Eco Lodge. Chrissie seufzt: „Und jetzt ein schönes kaltes Bier!“
Es ist ein gepflegtes neues Schul- und Tagungsgebäude, ganz in Weiß. Innen ist alles mit Kerzen beleuchtet. Klosteratmosphäre. Einige Jugendliche, dann eine Gruppe gepflegter alter Damen, die nach draußen streben, um sich auf einer kleinen Holztribüne von einem jordanischen Sonnenuntergang erleuchten zu lassen. Und statt Bier gibt es Wasser, Tee und Kaffee. Schließlich sind wir in einem muslimischen Land.
Chrissie wendet sich an einen jungen Mann, der offenbar zur Leitung des Hauses gehört. Laut Reiseführer sei von hier ein Rücktransport möglich.
„No problem. I call a driver.“
Und was kostet das?
„45 Dinar!“
Über 56 Euro? Wir sind doch nur 14 Kilometer gelaufen!
Der junge Mann lächelt verständnisvoll: „But there is no shorter way on the street. The driver needs 115 kilometers!“
Wir verstehen: diese Berge, diese Geröllebenen. Aber es kommt mir dennoch so vor, als sollte ich von Dortmund nach Essen über Münster und Xanten fahren. Die andere Option, sagt der Mann, ist, dort zu übernachten und am nächsten Tag zu Fuß zurückzugehen.
Never!
Zehn Minuten später ist der Fahrer da. Und wir starten beim letzten Tageslicht zu einer höllischen Fahrt, die wir nie vergessen werden.
„Bin gespannt, wann das Taxi kommt!“
Chrissie nickt. Glücklich, aber hundemüde stehen wir vor dem ECO-Center im Dana-Nationalpark und stoßen mit Mineralwasser und Tee auf unseren Sieg an: Wir haben einen 14 Kilometer langen Hindernismarsch hinter uns und 2,5 Stunden Autofahrt vor uns. Bis zu unserem Hotel in Dana Village muss der Fahrer einen großen Bogen schlagen, bis ihm die jordanischen Alpen einen Passweg öffnen. 115 Kilometer, denke ich, das reicht für ein Nickerchen.
Kurz vor Sonnenuntergang ist es soweit – und ich streiche die Worte „Taxi“ und „Nickerchen“ aus meinem Gedächtnis. Ein roter KIA-Kleinbus tuckert heran. Die besten Jahre hat er hinter sich und offenbar auch wenig Liebe und Zärtlichkeit erfahren. Die Scheinwerfer sind mit Staub bedeckt; die Frontscheibe hat auf der Beifahrerseite einen Riss, der mit etwas Klebeband „repariert“ wurde, und zudem seit drei Sandstürmen keinen nassen Schwamm mehr gesehen; der rechte Außenspiegel hängt vor den Lüftungsschlitzen des Motorraums.
„My name is Kalifa“, dröhnt der Fahrer und hält mir seine Pranke hin. „Let’s go!“
Chrissie klettert freiwillig nach hinten, ich hangele mich mühsam auf den Beifahrersitz. Der Griff nach dem Sicherheitsgurt geht ins Leere, der Wagen rattert ein Stück rückwärts, wird gewendet, und holpert in Richtung Sonnenuntergang. Dessen Licht kommt aber nur gedämpft an, denn innen ist die Scheibe auch nicht gerade blank. Mir kommt dieser gelbe Film sehr bekannt vor: Die Frontscheibe meines Golfs hatte auch solch eine Farbe, wenn ich beim Fahren die erste Stange Roth Händle geraucht hatte.
An bequemes Fahren ist auch nicht zu denken. Statt auf einer Straße befinden wir uns noch immer im Geröll des Flussbetts, das außerhalb der Berge auf Kilometerbreite angeschwollen ist. Im fahlen Restlicht des Tages ist nicht mal andeutungsweise eine Fahrspur zu erkennen. Und der stöhnende Kia vollführt auf Steinen, Querrillen und Böschungen einen wahren Höllentanz. Aber Kalifa steuert die kreischende Blechkiste, ohne auch nur ein Mal zu zögern, durch diese Mondlandschaft. Jedes normale Auto hätte hier nach 500 Metern sein Leben ausgeröchelt – aber diese Kiste hält durch.
Endlich etwas Licht im Dunkeln: Ein kleiner Supermarkt, eine Autowerkstatt und drei oder vier weitere Blechbungalows. Einige Männer laufen geschäftig hin und her, fast ohne Ausnahme in Camouflageklamotten.
Kalifa kennt sie offenbar alle. Unser Fahrer greift sich einen 10-Liter-Kanister aus Plastik und füllt Diesel in den Tank. Chrissie nutzt die Gelegenheit für einen Großeinkauf. 2 Bananen, zwei Äpfel, 1 Orange, 2 kleine Tüten Chips und eine Paprika. Alles zusammen für 2 Dinar. Billig! Im Dorf hätte das locker 10 Dinar gekostet.
Weiter geht’s. Chrissie sitzt weiter hinten, hängt ihren eigenen Gedanken nach und tippt, wie ich einen Tag später erfahre, Notizen für den nächsten Post in ihr iPad 🙂
Mittlerweile ist es 18:35 Uhr und es sieht draußen nach tiefster Nacht aus. Gelb aufleuchtende Katzenaugen markieren die Fahrbahnränder. Ab und zu reißt Kalifa das Lenkrad zur Seite, um einem Schlagloch auszuweichen. Bei rasender Fahrt führt er über sein Handy zwei Telefonate. Mit einer Hand steuernd weicht er dem Gegenverkehr aus und redet ungestört weiter. Und Immer wieder knipst unser Pilot sein Feuerzeug an und beleuchtet die linke Ecke des dunklen Armaturenbretts.
Irgendwann traue ich mich zu fragen, was er da macht. Statt einer Antwort hält er an, lässt mich aussteigen und klappt unsere Sitzbank nach hinten. Der Motor taucht auf und der Pilot öffnet einen Einfüllstutzen. Dann fischt er aus dem Fußraum einen kleinen Kanister heraus und kippt Kühlwasser nach.
Meine Güte! Wie alt ist diese Karre wirklich? Bilder aus meiner Kindheit tauchen auf. Fünfziger Jahre. Die Bundesbürger entdecken das Reiseland Italien. Und stehen mit offener Motorhaube auf den Alpenstraßen, um Wasser nachzukippen …
Dann geht es in die Berge. Steile Serpentinen. Der Kia keucht. Kalifa knipst weiter, um die Temperaturanzeige zu kontrollieren. Und dann geht es mit einem Telefonat in die nächste Kurve.
Hinter den Leitplanken vermute ich die tiefsten Schluchten des Nahen Ostens. Keine Überlebenschance. Wäre ich in einer gläubigen Familie groß geworden, würde ich jetzt beten. Aber welcher Gott wäre hier zuständig? Allah? Oder würde sich so dicht an der Grenze zu Israel Jehova einmischen? Oder hat dieser tapfere Kommunist in Bruno Apitz‘ Buchenwaldroman „Nackt unter Wölfen“ recht, der sich in Gefahr mit dem Satz tröstet: „Der liebe Gott verlässt keinen guten Atheisten!“?
Ein Licht in der Nacht: Eine kleine, hypermoderne Raststätte. Kalifa füllt zuerst Kühlwasser nach. Dann besorgt er für uns alle Kaffee, während Chrissie mit dem jungen Mischlingshund des tiefschwarzen Wirts auf der dunklen Fahrbahn herumtollt. Die Frau hat Nerven! Und
Kalifa hat es eilig.
Kurve um Kurve. Plötzlich haben wir keinen Asphalt mehr unter den Reifen, sondern Sand und Kiesel. Kein Grund das Tempo zu drosseln. Scheiße auch! Das kann doch nicht gutgehen!
Geht es aber. Eine Stunde später sind wir da. Ich steige mit weichen Knien aus und hoffe, dass sich mein Puls bis zum Schlafengehen wieder beruhigt. Kalifa hat sich seine 45 Dinar redlich verdient. Auf Chrissies Vorschlag lege ich noch eine Schachtel Gauloises obendrauf. Händedruck. Alles gut. Bruno Apitz hat Recht behalten.
5 thoughts on “Wadi Dana Trail – 14km hin und 115km zurück”
Whow, was für eine Wander-Leistung! Und die Fahrt mit dem „Taxi“ ist doch irgendwie die Sahne des Tages 😉
… da ist unser Zeitsprung in den Sommer ja nichts gegen …
War schon ein toller Tag! Aber die größte Leistung hat unser Taxifahrer vollbracht: Mit dieser Kiste 115 Kilometer fast im Blindfug unfallfrei durch die Nacht zu steuern – Hut ab!
Habt ihr nach der total beeindruckenden Landschaft und Wanderung eine zecken- und käferfreie Nacht gehabt?
Peter ist schwer beeindruckt, dass die 72 Jahre alten Knies so etwas noch schaffen. Gratulation!
Jetzt habt ihr aber wirklich mal eine Erholungspause verdient. Wir stellen jetzt die Uhr um und wünsche euch eine erholsame Nacht.
Der Greis wundert sich manchmal selbst … 😉
Wieder einmal ein beeindruckender Bericht von Euch.
Toll, wie Ihr die „Wanderung“ durch diese atemberaubende Landschaft gemeistert habt.
Teilt Eure Kräfte für die nächsten Herausforderungen ein!
Gruß aus der Heimat!