Stürmt der Rentner das Kloster Ad Deir?
Sonntag, 24.03.19.
[Wer nicht gern liest, kann unten direkt die Videos anklicken]
Es sollte der Tag der Wahrheit werden. Tagesziel: Petra, die sagenhafte Felsenstadt im Südwesten Jordaniens. Unser erstes ganz großes Ziel und gleichzeitig UNESCO Weltkulturerbe. Eines der „neuen“, also verbürgten 7 Weltwunder. 600 Jahre lang, je 300 vor und nach der Zeitenwende, Hauptstadt der sagenhaften Nabatäer! Ein Volk von Nomaden, die sich zu Handelsprofis und genialen Baumeistern entwickelten. In den Stein gehauene Königsgräber, Tempel und ein Kloster, das nur über einen steilen Aufstieg mit 800 Stufen zu erreichen ist. Würde der Rentner im Team durchhalten?
Bei strahlender Sonne geht es um sieben los. Den Gedanken an die verdammten 800 Stufen verdränge ich. Besucherströme produzieren ein Sprachenchaos, über das man selbst in Babylon gestaunt hätte. Jede Menge Guides in Captain Sparrow Optik dienen sich an, Esel-, Pferde- und Kamelbesitzer scheuchen ihre Tiere den ganzen Tag als lebende Taxis über steinige Wege und Stufen – vom Eingang bis zum Fuß des Klosterbergs sind es rund 8 Kilometer. Uns tun die Tiere leid – außerdem wäre Reiten extrem unsportlich. 2×8 km, denke ich, schaffst du – die Montagsstrecke des Ostermarsches, von Bochum-Werne bis in den Dortmunder Norden, ist auch nicht kürzer. Nur, dass es dabei keine 800 Stufen zu begehen gilt.
Schon kurz nach dem Start wird deutlich, warum die Nabatäer sich hier so lange halten konnten. Das Tal wird immer enger, die Felswände wachsen einem über den Kopf, es gibt keine Sonne und kein Ausweichen mehr. Wenn nur drei Leute nebeneinander fechten können, verliert jeder wilde Angreifer mehr Leute als der gut trainierte Verteidiger.
Mir fällt die Saga über den Spartaner Leonidas ein. Der hat in den Thermopylen mit 100 Mann ein ganzes Heer der Perser lange genug aufgehalten, dass die Athener fliehen konnten – mit 500 hätte er die Angreifer vielleicht zur Verzweiflung gebracht …
Plötzlich öffnete sich Schlucht: Die riesige Säulenfront der Schatzkammer Petras – einfach aus dem Felsen herausgemeißelt – leuchtet uns im Sonnenlicht entgegen. Wow!
Im 4. Jahrhundert wurde Petra von einem Erdbeben so weit zerstört, dass die letzten Bewohner die Stadt verließen und Petra nach und nach in Vergessenheit geriet. Über 1000 Jahre später machte sich ein Schweizer Forscher – als Beduine verkleidet – auf den Weg, um die sagenhafte Stadt zu finden. Was für ein Triumphgefühl muss das für ihn gewesen sein, am Ende der düsteren Schlucht dieses makellose Bauwerk zu entdecken!
An diesem Kunstwerk können wir nicht einfach vorbeilaufen. Wie an allen erhaltenen Stellen Petras haben auch hier Souvenir- und Getränkeverkäufer ihre Zelte aufgeschlagen. Ein kräftiger arabischer Kaffee beflügelt Chrissie zu einem Extra-Ausflug in die Steilwände, um einen Panoramablick zu genießen.
Ich schone mich lieber für die drohenden 800 Stufen und betrachte mal die in die Wände geschlagenen Grabhöhlen, mal die Besuchergruppen. Japaner mit Selfiesticks, plappernde Italienerinnen, russische Kleinfamilien, lautstarke Ossies … Langeweile kommt dabei nicht auf.
Etliche Steingräber später, nachdem wir am antiken Theater, am alten Händler-Säulengang, an den Königsgräbern und am Tempel vorbei sind, erreichen wir endlich den Fuß meiner eigentlichen Marterstrecke. Kritischer Blick auf die ersten zwanzig Stufen. Verdammt schmal, kein schützendes Geländer, danach 30 Meter Flachstrecke, ein Drittel des Weges von einem Souvenirstand besetzt, danach Felsgestein mit ausgetretenen Stufen. Kräftige junge Kerle ziehen mit einem Affenzahn an mir vorbei, unbekümmerte Mädels in Ballerinas, mehrere Esel mit Touristen auf ihren Rücken, ein grauhaariger Asiate mit gemessenem, aber strebsamen Schritt …
Endlich raffe ich mich auf. Versuche, den Abgrund neben mir zu ignorieren. Falsche Taktik. Ich muss mir diese Schlucht einfach wegdenken und nach vorne gucken, aber Chrissie Vorsprung lassen – sie hat ja keine Bremslichter am Heck und Auffahrunfälle bringen mich hier nur aus dem Tritt.
Gut 40 schiefe Stufen und einen Souvenirstand weiter: erste Verschnaufpause. Vielleicht hätte ich nach Dutzenden Jahren ohne Sport doch etwas eher mit dem Kraft- und Konditionstraining beginnen müssen. Und etwas härter trainieren sollen. Aber „hätte“ und „würde“ helfen mir nicht weiter. Sei kein Weichei – los!
Vierte oder fünfte Pause – Blick zurück. Der Startplatz liegt schon außer Sicht, die Menschen auf dem Talgrund sind bereits zu Zwergpudeln geschrumpft. Chrissie bietet mir an, die Tagesrucksäcke zu tauschen und damit die Hauptlast zu übernehmen – ich kann nicht Nein sagen. Weiter.
So etwa eine halbe Stunde nach dem Start und etlichen Biegungen im Felsgestein ist die Talsenke nicht mehr zu sehen – aber der Blick nach oben lässt noch keinen Hoffnungsschimmer zu. Immer wieder kommen uns Menschen von oben entgegen. Und nicht alle sind jünger als ich. Raff dich auf, Kollege!
Die Lungenflügel pfeifen, die Knie werden weicher. Welcher Teufel reitet mich, hier hochzuklettern? Aber eins ist klar: Nach all dem Tamtam in unserem Blog darf mir alles passieren: Beinbruch, Herzinfarkt, Absturz. Aber eine Sache ist verboten: Aufgeben. Dann kann ich gleich Asyl in Pippi Langstrumpfs Tackatuckaland beantragen. Aber ob Pippis Papa solch einen Versager aufnimmt?
Gefühlte 1000 Stufen weiter. Ich brauche eine Pause und heuchle Interesse an Verkaufsständen, in denen Beduinen Steine, Souvenirs und China-Tand feilbieten. Sogar Visazahlung ist hier oben möglich, stelle ich erstaunt fest. Von irgendwo wehen ein paar verirrte Regentropfen heran. Das wäre die echte Katastrophe: So viel Regen, dass der Staub auf den Stufen sich in Gleitcreme verwandelt. Komm, Petrus, sei nicht nachtragend: Das bitte nicht!
Petrus dreht den Wasserhahn wieder zu. Danke, Kumpel!
Irgendwann kommen mir die Ossis entgegen, die ich schon am Schatzhaus gesehen habe. „Noch weit?“
„Nee, nur noch fünf Minuten!“
Es waren sogar nur noch drei. Dann stehen wir auf einer kleinen Hochebene: Links eine Souvenir- und Imbissbude, davor die knatternde Fahne Jordaniens und gegenüber die Fassade des Klosters. Auch vor 2000 oder mehr Jahren in den Felsen gehauen, mit 51 Metern noch höher als die Schatzkammer, makellose Glätte auf den ebenen Flächen und präzise Verzierungen an den Kapitälchen der Säulen. Ohne elektrische Geräte, ohne Computerberechnungen, nur mit Muskelkraft und Können. Wie viele Männer sind dabei wohl draufgegangen oder später vor der Zeit an Steinstaublunge verreckt?
Ihre Namen stehen in keiner Chronik. Grund genug, ihr Werk mit Andacht und Bewunderung zu betrachten – was wären all die Könige und Priester ohne die Malocher gewesen?
Mit Andacht und Bewunderung dürft ihr nun auch Chrissies Videos ansehen, die es wohl in dieser Form nicht gäbe, wenn Petrus heute bessere Laune gehabt hätte 😉
Viel Vergnügen!
8 thoughts on “Stürmt der Rentner das Kloster Ad Deir?”
Wir sind schwer beeindruckt von allem, worüber ihr in äußerst amüsanter Weise schreibt. Mehrfach am Tag checken wir eure Seite, weil wir neugierig sind, mehr über euer Abenteuer zu erfahren.
Reinhard, mit dir würde ich auch noch mal den Berlin Marathon laufen!
Indianer young Jung… hihi.. wir sind stolz auf dich… hast dich tapfer geschlagen … passt auf euch auf.. es grüssen Andy und Katja
Wow! Wir sind total beeindruckt von Euren Videos und Eurer Leistung! Hut ab!
Kultur, Geschichte, faszinierend! Jetzt wissen wir, warum die Felsenstadt Petra zu einem der neuen sieben Weltwunder zählt!
Wir begleiten Euch in Gedanken!
Gigantische Ein- und Ausblicke, interessante Informationen und ein respekteinflössender Marsch – alle Achtung, sicher ein Highlight eurer Tour, an dem wir teilhaben durften. Danke dafür und weiter so, wir sind gespannt.
Wow, beeindruckende Bilder! Und dass Reinhard auf seine alten Tage noch so sportlich wird ist ein weiteres Weltwunder 😉
Passt gut auf euch auf und nicht übertreiben. Besser nicht gleich am Anfang Notrettung aus den Bergen ☺️
Glückwunsch! Wir haben mit euch gefiebert und warten Tag für Tag auf neue Nachrichten von euch Rucksacktouristen. Sowas nennt man Sucht. Nicht dass du, lieber Reinhard, noch bewegungssüchtig wirst!
Danke für das Lob – und die Warnung. Wenn es so weitergeht, komme ich gertenschlank zurück und kann mich für den Berlin-Marathon anmelden. 😉
Reinhard, ich bin wirklich, wirklich zutiefst beeindruckt!!!
Ich wäre vermutlich bereits nach einem Viertel des Hinwegs tot zusammengebrochen.
Wer von euch Beiden hat sich denn den schlechten Scherz erlaubt, dich als „übergewichtig“ zu bezeichnen? Du bist doch im besten Fall „gut dabei“.
Bereits am nächsten Tag auf eine erneute Monstertour aufzubrechen halte ich allerdings für übertrieben. Aber dem Hagelschauer sei dank, dass er euch nach Hause vertrieben hat.
Eile mit Weile, wie schon meine Großmutter selig so schön sagte.
Ich freue mich schon sehr auf eure nächsten extrem unterhaltsamen Berichte und Fotos.
Viel Glück!